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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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dem Mittelalter stand, deren Name, falls ihn je jemand gekannt hatte, längst vergessen war. Pallioti wischte ein paar Krümel beiseite. Dann setzte er sich und riss den Umschlag auf. Das kleine rote Buch glitt in seine Hand. Er ließ es in die Tasche gleiten und zog den Brief heraus. Er war mehrere Seiten dick. Ihre Initialen waren in dezentem Grau in das elegante Pineider-Papier geprägt. Diesmal hatte sie mit dunkelblauer Tinte geschrieben. Die Buchstaben waren fest und wankten nicht.
    Mein lieber Freund , hatte sie geschrieben.
    Ich hoffe, ich darf Sie so nennen. Ich glaube eigentlich schon, trotz unserer Differenzen – die alles in allem nicht besonders groß waren, nicht wahr? – und obwohl wir in diesem Fall auf verschiedenen Seiten standen. Ich kann mir keinen würdigeren Freund vorstellen. Zu einer anderen Zeit wären wir die besten Waffenkameraden gewesen. Vielleicht sogar mehr. Aber die Zeit verteilt die Karten auf eigensinnige Weise. Wir müssen das Blatt nehmen, das uns das Leben in die Hand gibt.
    Wenn Sie das lesen, dann, weil ich nicht mehr bin. Und ich nehme an, Sie haben inzwischen erraten, wer ich bin. Oder eher, wer ich war.
    Sie hatten natürlich recht, und zwar in praktisch allem – und vor allem in den entscheidenden Punkten. Ich hätte Ihnen gerne alles erzählt. Wirklich. Und ich hätte es auch getan, wenn ich allein davon betroffen gewesen wäre – einer alten Frau wie mir macht es nicht mehr viel aus, Zeit im Gefängnis zu verbringen. Und ich bin sicher, dass die Gefängnisse inzwischen entschieden angenehmer sind als damals die Villa Triste. Aber es geht nicht nur um mich, müssen Sie verstehen. Da sind meine Töchter. Schwiegersöhne. Enkel. Meine Familie. Sie sind mein ganzer Schatz. Cosimo überließ sie meiner Obhut, und ich kann nicht zulassen, dass ihre Mutter und Großmutter hinter Gittern landet. Bitte verzeihen Sie mir das.
    Was das andere angeht, hatten Sie, wie erwähnt, fast in allem recht. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass Sie gern die ganze Geschichte erfahren würden – etwas sagt mir, dass Sie nur schlecht mit Ungewissheiten leben können –, und um ehrlich zu sein, möchte ich sie auch ein einziges Mal erzählen dürfen. Darum werde ich, wie es alle guten Geschichtenerzähler empfehlen, am Anfang beginnen. Oder eher gesagt dort, wo Sie zu lesen aufgehört haben.
    Nur wenige Minuten, nachdem Caterina jene letzten Worte geschrieben hatte, klopfte es. Sie wurde gerade noch fertig. Sie huschte ins Schlafzimmer, weil sie etwas vergessen zu haben behauptete, und versteckte notdürftig ihr kleines rotes Buch. Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte. Ich hätte es auf jeden Fall gefunden. Ich habe immer alles gefunden. Caterina war nie besonders gut darin, etwas zu verbergen. Ich war in unserer Familie die Lügnerin.
    Sie müssen allerdings verstehen, und das ist mir wichtig – meine Schwester irrte sich damals. Sie war weder sorglos noch feige. Sie war einer der umsichtigsten, tapfersten Menschen, die mir je begegnet sind. Enrico und ich, wir waren da anders. Vielleicht einte uns eine Art genetischer Defekt. Wir empfanden einfach keine Angst. Vor nichts – ob ich nun vom Baum fallen oder auf dem Dach über der Terrasse erwischt werden oder in den Bergen erfrieren könnte. Gefahren waren uns lästig, aber sie machten uns keine Angst.
    Das hat nichts mit Mut zu tun. Man braucht keinen Mut, um sich Dingen zu stellen, die einem keine Angst machen.
    Im Gegensatz zu uns fürchtete sich Cati vor allem. Vor der Dunkelheit. Vor Mäusen. Davor, dass Papa im Regen von der Straße abkommen könnte. Dass Mama im Winter auf einer Eisplatte ausrutschen könnte. Dass sie sich den Arm oder den Fuß brechen könnte. Sie ging nie eislaufen, ging nie mit uns Ski fahren, wenn wir über Weihnachten in die Berge fuhren. Am meisten Angst hatte sie davor, etwas zu verlieren – einen geliebten Ort, ihr Heim, einen Menschen. Ich glaube, sie wurde vor allem Krankenschwester, um uns alle in einem Stück zu erhalten. Um uns wieder kitten zu können, falls wir auseinanderbrachen. Darum war ihr Mut … ihr Mut war außergewöhnlich. Ich hatte keine Sekunde lang Bedenken, ihr meinen Sohn anzuvertrauen. Ich vertraute meiner Schwester uneingeschränkt. Ich tue es immer noch.
    Und das ist einer der Gründe, warum ich so handeln musste, wie ich es getan habe. Es ging dabei nicht nur um Mama und Papa und Rico und Carlo und die anderen Jungen, die sterben mussten. Es ging auch um Cati – die
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