Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
Kalabrien war so weit weg, dass es in einem anderen Land hätte liegen können.
    Ohne ein Wort war Isabella abgestiegen und hatte mir ihr Fahrrad in die Hand gedrückt. Ich lehnte den Lenker gegen meinen Schenkel und schaute zu, wie sie zur nächsten Gruppe ging. Gleich darauf kam sie zurück, in einer Hand den albernen Hut, mit der anderen gestikulierte sie, als sollte ich erraten, was sie mir gleich mitteilen würde. Als sie mich erreicht hatte, blieb sie reglos stehen, mit gedankenversunkener Miene, als versuche sie zu begreifen, was sie gehört hatte.
    »Issa?«, fragte ich schließlich. »Isabella? Was ist denn los?«
    Ihre Miene ließ mich vermuten, dass möglicherweise der König gestorben war oder Winston Churchill oder Stalin oder der Papst. Aber es war etwas anderes. Meine Schwester sah mich an, und ihre blauen Augen wirkten dunkel.
    »Sie sagen, es ist vorbei.«
    »Vorbei?«
    »Genau.« Sie nickte.
    »Was denn?«
    »Der Krieg.«
    Ich starrte sie an.
    »Der Krieg?«
    »Wenigstens für uns«, sagte sie. Dann schränkte sie ein: »Es ist nur ein Gerücht. Aber sie sagen, Badoglio hätte Rom verlassen.«
    Isabella nahm die Lenkstange ihres Rads, stieg aber nicht wieder auf. Ohne nachzudenken, stieg ich ebenfalls ab.
    »Rom verlassen?«
    Mir war klar, dass ich mich wie ein Papagei anhörte oder eine Idiotin oder beides. Die Alliierten waren doch gewiss nicht bis nach Rom vorgedrungen und hatten den Premierminister verjagt? In nicht einmal einer Woche? Ohne dass wir etwas davon mitbekommen hatten?
    »Warum sollte er Rom verlassen? Wie meinst du das?«, fragte ich. »Was redest du da?«
    Meine Schwester marschierte los. Ich ging neben ihr her. Als wir in die Nähe der Piazza Goldini kamen, sah ich die Menschen aus den Häusern kommen und sich auf dem Platz versammeln.
    »Ich rede von einem Waffenstillstand.« Isabella sah mich unter der Hutkrempe hervor aus dem Augenwinkel an.
    »Einem Waffenstillstand?«
    Wieder der Papagei. Meine Schwester verzog ärgerlich das Gesicht.
    »Sie sagen, dass Badoglio einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet hat«, erklärte sie mir überdeutlich, als wäre ich schwerhörig. »Er soll heute Abend um acht Uhr eine Radioansprache halten. Und darin soll er erklären, dass sich Italien nicht mehr im Krieg befindet. Mit Amerika oder England oder sonst wem«, ergänzte sie, für den Fall, dass ich nicht begriffen hatte.
    Aber ich hatte sehr wohl begriffen. Nur zu gut. Ich starrte sie an. Inzwischen überquerten wir die Piazza und hielten auf die Straße zu, in der die winzige und Furcht einflößende Signora ihren Laden unterhielt.
    »Aber …«, sagte ich.
    Isabella nickte. »Ich weiß.«
    Sie senkte den Kopf und blickte konzentriert auf ihre Schuhspitzen. Wir bogen in die Straße ein und blieben stehen. Im Schaufenster des Salons waren Satinballen, ein Korb voller weißer Seidenrosen und mehrere kleine, von Tüllschleiern umhüllte Paare rosafarbener Schuhe ausgestellt. Dahinter konnten wir das Innere des Vorführraums erkennen, weich und rosa wie eine Gebärmutter, und auf dessen Rückseite die angelehnte Tür zum Anproberaum.
    »Ich weiß«, sagte Isabella. Sie schaute wieder auf, sah mir prüfend ins Gesicht und sprach den Gedanken aus, der sich eben erst in meinem Kopf zu bilden begann. »Wenn wir nicht mehr gegen die Alliierten kämpfen, was ist dann mit den Deutschen?«
    Mein Mund wurde trocken. Mein Verlobter Lodovico war bei der Marine und diente als Sanitätsoffizier auf einem Lazarettschiff, das vor die nordafrikanische Küste entsandt worden war. Er sollte jeden Tag in Neapel eintreffen. In zwei Monaten sollte er Urlaub bekommen und nach Florenz zurückkehren, und dann wollten wir heiraten.
    »Geh lieber hinein.« Isabella nickte zur Tür des Salons hin und nahm mir den Lenker meines Fahrrads aus der Hand. Aber nichts geschah. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Noch acht Wochen , hatte in Lodovicos letztem Brief gestanden. Noch acht Wochen. Hier ist ein Kuss für jede einzelne davon. Dann komme ich nach Hause.
    Jetzt versuchte ich, möglichst still zu sein und in meinen farblich abgestimmten Satinschühchen nicht nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten wie ein von Fliegen geplagtes Pferd. Die Signora brauchte ich nicht zu fragen. Ihre Welt beschränkte sich auf Säume und Nähte, auf gefältelte Spitzen und winzige, exakt platzierte Satinrosenknospen. Damit nicht genug, sie hatte mehr als einmal deutlich klargemacht, dass sie sich nicht für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher