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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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auf meinem Kopfkissen.
    Mit den Schuhen in der Hand stand ich da, aber ich brachte nicht mehr die Kraft auf, wütend zu werden. Als Kind hatte Issa das dauernd gemacht, immer wieder war sie von ihrem Bett in meines getappt, so als könnte sie keinen Unterschied zwischen beiden feststellen. Heute Abend hatte sie mir immerhin Platz gelassen. Ich bückte mich und hob ihr Kleid auf. Es war ihr Lieblingskleid und leuchtete in einem schillernden, mit Grün durchsetzten Blau. Die Seide stammte aus Como. Mama hatte sie ausgesucht. Für mich hatte sie damals einen bronzefarbenen Ballen ausgewählt. Mit meiner Haut, sagte Mama, und meinen Haaren konnte ich kein Grün tragen. Selbst bei Blau müsste ich aufpassen. Ich bräuchte Herbstfarben. Bronze, Kupfer. Gelegentlich Rot. Ich hatte nichts dazu gesagt, aber mir gefielen meine Sachen nicht. Ich wollte nicht die Farben sterbender Blätter tragen. Ich wäre auch lieber eine Libelle gewesen.
    Ich strich den Rock glatt, öffnete leise den Kleiderschrank und schob das Kleid auf einen Bügel. Dann zog ich meine Wäscheschublade auf und stellte fest, dass sich Issa eines meiner Nachthemden ausgeliehen hatte. Meine Aussteuer hatte ich weggeschlossen, sonst hätte sie wahrscheinlich auch die geplündert. Besitz existierte nicht wirklich für meine Schwester. Sie nahm sich einfach, was ihr gefiel.
    Als ich Isabella so in mein Bett gekuschelt und in mein Nachthemd gekleidet daliegen sah, fragte ich mich, ob sie wohl je gezwungen sein würde, erwachsen zu werden. Wahrscheinlich nicht, dachte ich. Wahrscheinlich würde sie zu den Menschen gehören, die zeitlebens Privilegien genossen, wie man sie ansonsten nur kleinen Kindern zugestand – dank ihres Charmes und der Fähigkeiten, die man durch zu große Nachsicht erwirbt. In unserer Familie machten wir oft Witze darüber, dass Issa sich alles erlauben konnte.
    Während ich mir die Haare kämmte, spürte ich, dass sie mich beobachtete. Ich sah in den Spiegel.
    »Hast du Angst?«
    Ich legte die Bürste weg. Dann stand ich auf, öffnete das Fenster und schloss die Fensterläden davor.
    »Ja«, sagte ich. »Mach Platz.«
    Sie rutschte zur Seite, und ich kletterte ins Bett. Ich warf den Kopf auf mein Kissen und riss an der Decke. Issa wartete zwei Sekunden ab, dann riss sie die Decke zurück und begann zu lachen. Hoch und klar drang das Geräusch durch die Dunkelheit.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war sie verschwunden. Ich blieb im Bett liegen, spürte ihrem Echo im Zimmer nach und beobachtete die Sonnenstrahlen, die sich durch die Fensterläden zwängten. Ich hatte von Lodovico geträumt. Ich hatte seine Stimme gehört. Ihn lächeln gesehen. Gerade als er in seiner Offiziersuniform auf mich zugekommen war, war ich aufgewacht. Ich schloss die Augen und versuchte noch einmal, ihn heraufzubeschwören, versuchte noch einmal, seine Hände zu spüren. Dann fiel es mir wieder ein, und ich sprang aus dem Bett. Der alliierte Hafen.
    Unten waren noch die Überreste der Feier zu besichtigen – schmutzige Gläser, Zigarettenstummel in den Aschenbechern. Ich warf einen Blick auf die Standuhr im Gang. Es war nach neun Uhr an einem Donnerstagmorgen. Papa und Issa waren bestimmt schon vor Stunden zur Universität aufgebrochen. Hinter der Küchentür hörte ich leises Gemurmel. Das Radio. Ich ging um den Esszimmertisch herum und drückte die Tür auf.
    Meine Mutter stand mitten im Raum. Sie war noch im Nachthemd, genau wie ich.
    »Mama?«, fragte ich und sah dabei auf die Anrichte, wo das Radio stand. »Was ist denn los? Was passiert jetzt?«
    Wir alle, Issa, Rico und ich, hatten im Lauf der Jahre gelernt, dass wir uns nicht an unsere Mutter wenden durften, wenn wir Geborgenheit suchten. Dass Papa derjenige war, auf den man sich verlassen konnte, wenn Monster unter dem Bett hervorgejagt werden sollten oder wenn jemand auf die Büsche einschlagen musste, um zu beweisen, dass Graf Dracula wirklich nicht unten im Garten lauerte.
    Mama wandte den Blick vom Radio ab und sah mich an.
    »Die Alliierten sind in Salerno gelandet.«
    »Was?«
    »Gestern Nacht. Heute ganz früh. Sie sind immer noch dabei.«
    Es war also wirklich so gekommen. Ich ließ mich auf den Küchenstuhl sacken, der unter mir zu wackeln begann.
    Während aus dem Arbeitszimmer meines Vaters Stimmen gesickert waren, während ich mit Issa um die Decke gestritten und von Lodovico geträumt hatte, hatte die Invasion – die richtige Invasion – begonnen.

    Nach meinem Universitätsstudium
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