Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Insel der blauen Delphine

Titel: Insel der blauen Delphine
Autoren: Scott O Dell
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
    Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, an dem das Aleuterschiff kam. Erst sah es aus wie eine kleine Muschel, die auf dem Meer dahintreibt. Dann begann sie zu wachsen und wurde zu einer Möwe mit gefalteten Flügeln. Zuletzt, als die Sonne aufging, erkannte ich, was es wirklich war - ein Schiff mit roten Segeln! Mein Bruder und ich waren auf einen Hügel gestiegen; unter uns lag eine Schlucht, die sich bis zu einem kleinen Hafen hinunterschlängelt. Dort liegt die Korallenbucht. Mein Bruder und ich wollten auf der Anhöhe nach Wurzeln graben. Im Frühjahr findet man dort immer welche. Mein Bruder war noch klein, halb so alt wie ich, und ich zählte damals zwölf Jahre. Gemessen an den vielen Sonnen und Monden, die er gesehen hatte, war Ramo klein, doch flink wie eine Grille, aber auch ebenso töricht, wenn er in Aufregung geriet. Darum sagte ich ihm nichts von der Muschel und der Möwe mit den gefalteten Flügeln, die ich entdeckt hatte, denn er sollte mir beim Wurzelsammeln helfen und nicht davonlaufen. Ich stocherte weiter mit meinem spitzen Stock, als wäre auf dem Meer nicht das Geringste zu sehen. Selbst als ich sicher wusste, dass die Möwe ein großes, fremdes Schiff war, grub ich weiter im Gestrüpp. Doch Ramos Augen entgingen wenige Dinge auf dieser Welt. Sie waren schwarz und groß wie die Augen einer Eidechse und sie konnten genauso schläfrig blicken; aber gerade dann nahmen sie alles am besten wahr. Die Augen halb geschlossen, schaute er jetzt blinzelnd aufs Meer hinaus wie eine Eidechse, bevor sie die Zunge herausschnellt, um nach einer Fliege zu schnappen. “Das Meer ist glatt”, sagte Ramo, “wie ein flacher Stein, der keinen einzigen Kratzer hat. ” Mein Bruder redete gerne so, als wäre etwas nicht das, was es war, sondern etwas anderes. “Das Meer ist kein Stein, der keinen Kratzer hat”, sagte ich. “Es ist Wasser, das keine Wellen schlägt. ” “Für mich ist es ein blauer Stein”, sagte er. “Und ganz außen am Rand des Steins sitzt eine kleine Wolke. ” “Wolken sitzen nicht auf Steinen. Nicht auf blauen und nicht auf schwarzen und nicht auf irgendwelchen Steinen. ” “Dort sitzt aber eine. ” “Nicht auf dem Meer”, antwortete ich. “Dort gibt es Delfine, Möwen, Kormorane und Seeotter, auch Walfische, aber keine Wolken. ” “Vielleicht ist es ein Walfisch. ” Ramo trat von einem Fuß auf den anderen; während er zuschaute, wie das Schiff näher kam. Er wusste nicht, dass es ein Schiff war, denn er hatte noch nie eines gesehen. Auch ich hatte noch nie eines gesehen, aber ich wusste, wie Schiffe aussahen, weil mein Vater sie mir beschrieben hatte. “Schau du nur ruhig aufs Meer hinaus”, sagte ich, “ich grabe inzwischen nach Wurzeln. Und ich werde sie aufessen und du bekommst nichts davon. ” Ramo begann mit seinem Stock auf den Boden zu schlagen, doch obgleich er die ganze Zeit so tat, als schaute er nicht hin, ließ er das Schiff nicht aus den Augen. Es kam immer näher und seine Segel schimmerten rot durch den Morgendunst. “Hast du schon einmal einen roten Walfisch gesehen?”, fragte er. “Ja”, sagte ich, aber das war gelogen. “Die Walfische, die ich gesehen habe, sind grau. ” “Du bist sehr jung und hast noch längst nicht alles, was im Meer schwimmt, gesehen. ” Ramo hob eine Wurzel vom Boden auf und wollte sie eben in den Korb fallen lassen, als er plötzlich den Mund weit aufriss und dann langsam wieder schloss. “Ein Kanu!”, schrie er. “Ein Riesenkanu, größer als alle unsere Kanus zusammen. Und rot!” Ob Kanu oder Schiff, für Ramo gab’s da keine Unterschiede. Im nächsten Augenblick hatte er die Wurzel in die Luft geschleudert und war verschwunden. Lärmend und rufend bahnte er sich einen Weg durchs Gestrüpp. Ich stocherte weiter, doch meine Hände zitterten, denn ich war noch aufgeregter als mein Bruder. Ich wusste, dass das dort unten kein großes Kanu, sondern ein Schiff war, und ein Schiff konnte vieles bedeuten. Am liebsten hätte ich den Stock weggeworfen, um hinter meinem Bruder her ins Dorf zu laufen; stattdessen arbeitete ich weiter, weil wir zum Essen nun einmal Wurzeln brauchten. In der Zeit, da ich den Korb füllte, hatte das Aleuterschiff die breite Salzkrautbank vor unserer Insel umsegelt und war zwischen den beiden Felsen, welche die Korallenbucht abschließen, in den Hafen eingelaufen. Die Kunde von seinem Erscheinen war schon bis ins Dorf Ghalasat gedrungen. Unsere Männer liefen mit ihren Waffen den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher