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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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Kühl und glatt glitt der Satin des elfenbeinweißen Hochzeitskleids über meinen Kopf. Draußen war es heiß. Es war gerade erst Mittag, und schon hing die Luft wie eine stickige Decke über der Stadt und tönte den Himmel in einem schmutzigen Hellblau. Ich spürte, wie sich meine Frisur auflöste, wie sich die Haare aus den Nadeln lösten und mir im Nacken klebten, während die Gehilfinnen der Schneiderin, ein Kader stiller junger Mädchen in rosa Trägerschürzen, mich in das Kleid einschnürten, indem sie die endlosen Reihen winziger Knöpfe verschlossen. Schließlich waren sie fertig, nahmen mich an beiden Armen wie eine Invalidin und halfen mir auf einen Hocker, damit ein letztes Mal Maß genommen werden konnte.
    Vorn im Vorführraum zerteilte das laute und langsame Ticken einer Uhr die Zeit in schwere, zähe Tropfen. Ich versuchte, die Sekunden nicht im Kopf mitzuzählen. Nur Verrückte zählen die Sekunden. Nervenwracks und Geisteskranke. Zweiunddreißig Sekunden verstrichen, bevor die Signora persönlich in den Anproberaum trat. Sie sah mich an und klackte mit den Zähnen. Dann machte sie sich an die Arbeit. Mit jedem Ruck und jedem Nadelstich saß das Kleid enger, bis ich mich fragte, ob sich eine Schlange kurz vor dem Häuten wohl ähnlich fühlte.
    Meine Schwester Isabella war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte sich kurz im Salon gezeigt, aber jetzt sah ich durch die halb offene Tür des Anproberaumes ihren Hut mutterseelenallein auf dem rosa gepolsterten Zweisitzersofa liegen.
    Der Hut sah grässlich aus, doch meine Mutter hatte darauf bestanden, dass sie ihn aufsetzte. Weil Mama heute ihren fünfzigsten Geburtstag feierte, hatte sie, statt selbst mitzukommen, Isabella als Vertretung mitgeschickt, während sie selbst zu Hause die Vorbereitungen für das Geburtstagsfest überwachte. Bevor wir das Haus verließen, hatte uns Mama eingeschärft, dass wir der Signora unter gar keinen Umständen nachgeben dürften, was die Anzahl der Knöpfe auf meinen Ärmeln anging, und uns dann, praktisch noch in der Tür, ermahnt, Hüte aufzusetzen. Meiner war hellgrün, passend zu meinem Kleid. Isabella trug einen blauen Strohhut mit einer Nadel in der Krempe. Wir trugen beide nicht besonders gerne Hüte, aber Isabella reagierte besonders bockig, wenn sie gesagt bekam, was sie anziehen sollte. Sie war neunzehn und gerade das zweite Jahr an der Universität, wo, wie sie unserer Mutter mitteilte, kein Mensch einen Hut trug. Als wir aus dem Haus traten, drückte sie sich die verhasste Kopfbedeckung in die Stirn und grummelte, dass es sie nicht überraschen würde, wenn »das verflixte Ding in den Fluss geweht würde«.
    Aber dazu war es nicht gekommen. Denn bis wir unsere Fahrräder aus dem Schuppen geholt hatten, damit den Hügel hinab durch die Porta Romana und weiter durch die enge, dunkle Via Sertagli gefahren und endlich am Fluss angekommen waren, hatten wir die Hüte, ob hässlich oder nicht, längst vergessen.
    Als wir auf den Lungarno abbogen, begriffen Isabella und ich im selben Moment, dass etwas passiert war. Das Wissen durchzuckte uns beide, schnell und aufrüttelnd wie ein elektrischer Schlag. Wegen der ständigen Benzinrationierungen herrschte auch sonst kaum Verkehr, aber heute war nicht ein einziger Wagen unterwegs. Wie blieben stehen, schauten nach links und rechts und stellten fest, dass die lange Uferpromenade gespenstisch ruhig war. Am Fuß der Mauern stand stumpf und matt das Schilf, und der Arno zog glasig und träge daran vorbei. Ein Schleier lag über dem braunen Wasser. Doch trotz der Hitze ging niemand auf der Brücke vor uns spazieren, niemand lehnte an der Brüstung. Stattdessen standen die Menschen in kleinen Haufen beisammen. Überall auf den Bürgersteigen hatten sich Gruppen gebildet, die auf die Fahrbahnen quollen. Stimmen surrten wie ein Bienenschwarm.
    Isabella und ich sahen uns an. Die eigentümliche Elektrizität in der Luft war uns nicht völlig fremd. Das letzte Mal hatte diese Spannung vor sechs Wochen geherrscht, als Mussolini aus dem Amt gejagt worden war. Tatsächlich wirkte das Land seither wie leicht betäubt, so als würde es ziellos dahintaumeln und dabei versuchen, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Jetzt sah es so aus, als wäre wieder etwas passiert, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein sollte. Richtig, die Alliierten hatten in Kalabrien einen ersten Vorstoß aufs Festland unternommen – aber das war schon vor Tagen gewesen. Längst überholt. Und
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