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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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»Klatsch« interessierte. Vielleicht durfte eine Mutter noch intervenieren, wenn es um Ausschnitte und Miedergrößen ging. Bräute hatten es dankbar und still zu erdulden, wenn sie gepiekt und gepeinigt wurden.
    Fast eine halbe Stunde verging, bevor sich die Signora wieder erhob. Die letzten zehn Minuten hatte sie hinter mir in der Hocke verbracht. Ohne sich für irgendetwas von dem zu interessieren, was in der Welt außerhalb ihres Salons vorging oder auch nicht – ausgenommen natürlich die Qualität der lieferbaren Seidenstoffe und die Frage, ob in Mailand oder Paris noch die passende »Formwäsche« zu bekommen war –, murmelte die kleine Frau ein paar Worte. Zwei der stummen, bleichen Wesen, die ihr wie Schatten folgten und der Signora wahlweise Signierkreide oder ein Maßband gereicht hatten, traten vor und halfen mir vom Hocker herunter, wieder jeweils an einem Arm, um mich dann wie eine Riesenpuppe vor einem Standspiegel aufzustellen, der mit einem Seidenpapier abgedeckt war. Ohne ein Wort zu sagen, richteten sie meine Schleppe und legten sie glatt auf dem Boden aus. Ein drittes Mädchen erschien mit einem weiteren Bogen Seidenpapier, den sie ausgestreckt auf beiden Händen trug. Sie legte ihn hinter mir auf einer Bank ab. Ich hörte ein leises Rascheln. Dann wurde mir der Schleier aufgesetzt.
    Ich warf einen Blick durch die offene Tür. Der Hut lag immer noch auf dem kleinen Sofa, aber von Isabella war nichts zu sehen. Ich vermutete, dass sie losgezogen war, um irgendwo eine Zeitung aufzutreiben oder Radio zu hören, und ich konnte ihr das nachfühlen, trotzdem wünschte ich mir, sie wäre bei mir geblieben. Mein Herz fühlte sich merkwürdig an, fast als wäre es in einen Käfig gesperrt worden. Weitere Mädchen tauchten wie aus dem Nichts auf. Sie stellten sich hinter mir im Halbkreis auf, um die fertige Kreation zu bewundern. Die Mienen voller einstudierter Vorfreude, die Hände vor dem Leib gefaltet, warteten sie ab. Dann, endlich, erhob sich die winzige Signora auf die Zehen. Ihre Hand schoss hoch wie die Klaue einer Katze, riss das Seidenpapier zur Seite und enthüllte den Spiegel, als wäre sie ein Zauberer, der eine halbierte Jungfrau präsentiert.
    Ich blinzelte.
    Ein groß gewachsenes Mädchen blinzelte zurück. Ihr Haar war nicht zu sehen und von etwas bedeckt, das wie ein Spinnennetz aussah. Ihre Augen blickten starr. So ganz in Weiß gehüllt, sah sie aus wie eine Rauchsäule. Wie eine Frau in einem Trauergewand. Wie Lots Weib, das sich umgedreht hatte und zu Salz erstarrt war.

    Isabella hatte tatsächlich eine Zeitung aufgetrieben, aber in der stand nichts. Offiziell gab es nichts zu vermelden, weil nichts passiert war. Aber jeder wusste, dass das nicht stimmte. Während der fast drei Stunden, seit ich den Salon betreten hatte, hatte sich auf den Straßen viel getan. Die gelähmte, elektrisierte Atmosphäre war verflogen. Der Sturm war losgebrochen, diesmal schlief wirklich niemand mehr. Auf der Fahrt nach Hause, diesmal ohne Hut – Isabellas lag immer noch auf dem Sofa, meiner in der Ecke des Anproberaums, in die ich ihn mit einer Inbrunst getreten hatte, die er wahrscheinlich nicht verdient hatte –, mussten wir immer wieder ausweichen. Bremsen. Mehr als einmal konnten wir in letzter Sekunde einen Unfall vermeiden und zentimeterknapp Menschen umfahren, die wild wedelnd auf die Straße gelaufen kamen und sich laut rufend bei den Armen packten.
    Daheim war das ganze Haus in Aufruhr. Emmelina, die seit meiner frühesten Kindheit unsere Haushaltshilfe war, stand in der Küche und befehligte die Lieferjungen sowie drei Frauen aus der Stadt, die zum Helfen gekommen waren. Im Esszimmer saß ihre Nichte am Tisch. Als ich am Morgen nach unten gekommen war, hatte das Mädchen – ein kleines, festes Geschöpf mit Augen so schwarz wie Flusskiesel – bereits das Silber poliert und die Löffelchen neben den flachzinkigen Gabeln fächerförmig auf der Anrichte ausgelegt. Jetzt faltete sie mit ihren breiten Stummelfingern weiße Leinenservietten und kniff sie zu perfekten Dreiecken. Auf der Terrasse stellten zwei Männer im Blaumann Stühle und Tische auf. Ein Streichquartett war eingetroffen. Es würde getanzt werden. In der Einfahrt lehnte die alte Mähre des Gemüsehändlers in den Holmen des Pferdekarrens, der wieder in Dienst genommen worden war, seit das Benzin für die Händler zu teuer geworden war.
    Unsere Mutter war nirgendwo zu sehen, darum entgingen wir einer Standpauke wegen der Hüte.
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