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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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konnte ich etwas hören. Anfangs glaubte ich, es sei ein weinendes Kind – vielleicht war es in meinem Traum tatsächlich eines gewesen –, doch dann begriff ich, dass irgendwo ein Hund winselte. Es ist verblüffend, wie universal dieser Klang ist – der Klang von Angst und Einsamkeit. Ich nahm an, dass es der Hofhund war, den die Familie zurückgelassen hatte. Ich stand auf und ging in die Küche, und dort sah ich ihn am Fenster stehen. Der Hund war auf einen alten Trog gestiegen, der im Hof an der Hauswand lehnte, und sah durch die Scheibe herein. Er hatte weiße Vorderpfoten und war ungeheuer schmutzig. Ich glaube nicht, dass ich diesen Anblick je vergessen werde.
    Weil ich das Fenster nicht öffnen konnte, ging ich durch die Speisekammer hinaus in den Hof und nahm ihn dort auf den Arm. So stand ich da, den kleinen Hund an mich gedrückt, tätschelte ihn und versuchte, sein Zittern zu lindern, als ich es hörte – das Brummen eines Flugzeuges. Ich sah auf, aber ich konnte nichts erkennen. Und dann war es da, unversehens, direkt über mir.
    Ich lief nicht los, ich warf mich zu Boden. Danach glaubte ich, ich sei tot.
    Mein Kopf dröhnte. Ich hörte nichts mehr und sah nichts mehr. Alles war voller Schutt: Steine, Balken, Erde. Dazu Geschirr – ich sehe heute noch diesen blauen Blechteller vor mir. Und den Hund. Der Hund war auch noch da. Er drückte sich an meinen Bauch, so fest er konnte, als könnte er sich irgendwie vor dem Tod schützen, indem er nur nah genug bei mir blieb. Dann kam nichts mehr. Ich muss ohnmächtig geworden sein. Ich war ganz sicher ohnmächtig, denn als ich die Augen wieder aufschlug, war es Nacht.
    Die Stille war köstlich. Ich sah Sterne. Der Hund lag immer noch an meiner Seite. Es ist erstaunlich, wie tröstlich die Anwesenheit eines anderen Lebewesens wirken kann, wie sehr man sich danach verzehrt, ein Herz neben sich schlagen zu spüren.
    So lag ich da und war beinahe glücklich. Ich weiß, das hört sich merkwürdig an, aber ich schaute zu den Sternen auf. Ich hörte, wie Papa sie mir erklärte, wie er mir den Oriongürtel zeigte. Die Plejaden. Wie er mich den Polarstern suchen ließ, damit ich mich nie verirren konnte. Dann leckte der Hund mein Gesicht und begann wieder zu winseln. Das Jaulen zog mich wie an einer Angelschnur aus meinen Träumen – und es ließ mich gleichzeitig begreifen, dass ich sterben würde, wenn ich nichts unternahm.
    Ich wusste, dass ich verletzt war, aber nicht, wie schwer. Ich hörte deutlich, wie Caterina mir befahl, mich nicht zu bewegen, bis ich festgestellt hatte, wo die Verletzungen saßen. So ging ich den ganzen Körper durch, Körperteil für Körperteil – und fragte mich dabei jedes Mal, ob ich noch etwas spürte. Hand. Finger. Fuß. Zehen. Knie. Dann der eine Arm – aber der andere rührte sich nicht. Ich versuchte, mich zur Seite zu drehen. Es fühlte sich an, als würde mir der linke Arm abgerissen. Bestimmt habe ich geschrien. Ich bin ganz sicher. Wahrscheinlich habe ich dem armen Hund einen Todesschrecken eingejagt. Gott sei Dank hörte mich sonst niemand. Danach brauchte ich eine Weile zum Überlegen. Bis ich begriffen hatte. Mein Arm war eingeklemmt, wahrscheinlich unter einem Balken aus der Decke über der Speisekammer. Ich konnte ihn nicht mehr bewegen, und ich begriff recht schnell – mein Gehirn begriff –, dass ich etwas unternehmen musste. Mein Hirn begriff, dass ich nicht so liegen bleiben konnte, weil mich sonst jemand finden würde – jemand, der mich umbringen würde –, wenn ich bis dahin nicht langsam und grausam verdurstet, verblutet und an Erschöpfung gestorben war.
    Ich fasste nach meinem Arm und versuchte, daran zu ziehen. Das war ein Fehler. Trotzdem bewegte er sich, wenn auch nur um ein winziges Stück. Nachdem sich nicht mehr alles um mich drehte, fiel mir ein, dass ich eine Jacke getragen hatte, eine Jagdjacke für Männer, und irgendwann, ich weiß nicht mehr genau, wann, kam mir der Gedanke, dass ich mich möglicherweise befreien könnte, wenn ich aus dieser Jacke schlüpfen konnte. Vielleicht würde ich den Arm durch den Ärmel schieben können wie durch ein Gehäuse. Genau das tat ich dann auch. Wahrscheinlich war ich über eine Stunde damit beschäftigt, aber irgendwann hatte ich ihn herausgezogen.
    Als ich es endlich geschafft hatte aufzustehen, begriff ich, dass ich verschwinden musste. Also ging ich los. Der Hund folgte mir. Wir überquerten die zerfetzten Gleise und hielten auf die Berge zu. Weit kamen
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