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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind
Autoren: Carolin Wittmann
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Lieber Papa,
    wenn du diese Zeilen liest, dann liest du sie leider ein halbes Jahr zu spät. Das Buch ist veröffentlicht, und deine Persönlichkeitsrechte wurden mit Füßen getreten. Das bedauere ich aufrichtig. Ich sage dir aber gleich, dass ich einen sehr guten Anwalt kenne, der mich notfalls aus der Sache rausboxt. Und eine Haftpflichtversicherung habe ich mittlerweile auch, und ich bin sogar im ADAC . Spätestens seit deinem nicht ganz freiwilligen Aufenthalt in China finde ich die Vorstellung tröstlich, dass mir die Gelben Engel zumindest theoretisch und laut Prospekt einen Learjet chartern und mich aus dem Land fliegen werden, wenn mich mein jahrelanger Nikotinabusus, mein nicht wegzudiskutierendes Übergewicht und meine chronische Unsportlichkeit zur Notfallpatientin gemacht haben.
    Bevor du dich nun in dieses Buch vertiefst, solltest du wissen, dass ich es wirklich nicht schlimm finde, in meiner Kindheit keine Pflaster mit lustigen Tiermotiven, ja, wenn ich genau darüber nachdenke, gar keine Pflaster bekommen zu haben. »An der Luft verheilt’s am besten«, hast du immer gesagt, und du hast immer recht gehabt.
    Ich nehme es dir auch nicht krumm, dass du mir jedes Mal, wenn du mir eine Spritze gegeben hast, zuerst mit Indianerblut, diesem desinfizierenden roten Zeug, auch Mercurochrom genannt, eine Zielscheibe auf den Oberarm gemalt und dann die Spritze geworfen hast. Die Zielscheibe trug ich, dein bemitleidenswertes Opfer, eine Weile lang gut sichtbar als Zeichen meiner Niederlage auf der Haut, denn Mercurochrom machte hartnäckige Flecken. Aber als dein Patientenkind wusste ich zum Glück, dass die Halbwertszeit deines künstlerischen Ergusses höchstens eine Woche betrug. Mittlerweile ist Mercurochrom wegen seines zu hohen Quecksilbergehalts vom Markt genommen.
    Na ja. Erst im Nachhinein weiß ich das leuchtende Fadenkreuz, das du mit dem Wattestäbchen aufgepinselt hast, so richtig zu schätzen. Und zwar als todsicheres Indiz für das weniger schmerzhafte Werfen der Spritze. Denn nach der ungewohnt epischen Ankündigung »Das wird jetzt ein bisschen pieksen« einer Ärztin, die mir bei meiner ersten Außer-Haus-Injektion jeden ihrer Schritte genauestens mitteilte, spürte ich, wie weh es tut, wenn sich eine Spritze gaaanz langsam unter die Haut schiebt.
    Leider haben sich nicht alle Ausformungen deines Erziehungs- und Lebensstils, die ich als Kind verflucht habe, in der Rückschau als Segen herausgestellt. Tatsächlich war es eine mehr als große Herausforderung, deine Tochter zu sein, wobei ich zugeben muss, dass es sicher Leute gibt, die dich um eine Tochter, die ein derart schonungsloses Buch über ihren Vater schreibt, nicht beneiden würden. Aber von dir habe ich gelernt, dass man auf die Meinung anderer Leute nichts geben soll. Du bist ein besonderer, ein anstrengender und manchmal auch besonders anstrengender Mensch, aber dank dir habe ich gelernt, die Arschbacken zusammenzukneifen, vor allem dann, wenn du versucht hast, ein Zäpfchen hineinzuschieben.
    Ich weiß, du hattest immer Angst, dass deine Brut verweichlicht. Deswegen hast du penibel darauf geachtet, dass wir nicht zu viele Impfungen bekommen oder Tabletten schlucken oder in unserer Gesamtheit zu elendigen Jammerlappen verkommen. Du kannst dir sicher sein, dass das nicht der Fall ist. Wir sind hart im Nehmen und viel belastbarer, als du womöglich glaubst. Und das, was dich fast getötet hat, hat uns am Ende tatsächlich noch härter gemacht.
    Ich habe dich sehr lieb und bin froh, dass die Reisfresser dich nicht mit den Füßen voran nach Hause geschickt haben.
    Deine Caro.
    PS : Wenn ich das nächste Mal nach einem Pillenrezept frage, verkneif dir doch bitte den Hinweis auf die Thrombosegefahr für Raucher. Wer im Glashaus sitzt, sollte bei der Steinauswahl vorsichtig sein.

I. Anamnese

1. Alle für einen
    Als meine beiden Schwestern und ich noch klein waren, nahmen uns unsere Eltern häufig mit in die Praxis. Das war eine zauberhafte, eine wunderbare Welt! Auf Tischen, in Regalen und hinter Türen standen geheimnisvolle Skelette und Wirbelsäulenmodelle herum. Vor allem Otto, das große Ganzkörperskelett, wuchs uns Kindern mit der Zeit regelrecht ans Herz, aber nicht wegen seiner großen traurigen Hohlaugen und der lustigen, schlaksigen Gestalt, sondern weil man mit Ottos Knochenhand andere so hervorragend erschrecken konnte, wenn man sie von hinten über die Schulter zum Hals hinaufschob. Der Aufbau eines Herzens, das Innenleben
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