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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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blieb, in denen Strandspielsachen für kleine Jungen ausgestellt waren.
    Er hatte gerade eine dieser Stöbertouren beendet und war auf dem Rückweg ins Büro, als er an einem Zeitungsstand vorbeikam und wie angewurzelt stehen blieb. Die Wochenzeitung, die nicht nur Fußballtermine und Filmkritiken bot, sondern auch Promiklatsch und eine Glosse darüber, wen man wo in welchen Klamotten gesehen hatte, war am Vorabend erschienen. Ein Stapel Zeitschriften lag gebündelt auf dem Gehsteig. Donata Grandolos Gesicht starrte zu ihm auf. Das Foto war von einem schwarzen Trauerrand umgeben. Darüber stand in dicken Lettern: Bekannte Wohltäterin und Witwe des Bankers Grandolo stirbt friedlich im Bett.
    Die Straße erstarrte um ihn herum. Sie zerbröckelte und löste sich auf wie ein Bild aus Zucker. Stattdessen machte sie dem eleganten Wohnraum Platz, dem Knistern und Knacken der Flammen, dem Schimmern eines libellenblauen Schals. Um ihn herum stieg, warm und scharf zugleich, in einer Wolke von leisem Gemurmel der Duft eines Blumenstraußes auf.
    Pallioti schluckte. Er angelte ein paar Münzen aus der Hosentasche, sah zu, wie der Straßenverkäufer die Schnur durchtrennte und ihm ein Exemplar reichte. Dann ging er weiter, die Zeitung fest an die Brust gepresst. Aber er las sie nicht, er sah sie nicht einmal an. Er war zu beschäftigt damit, der Gestalt eines Mädchens zu folgen, das ihm zu entschwinden drohte, das sich in Männerkleidung und schwerem Pullover durch die Menge schlängelte oder das mit offenem Mantel über der Schwesternuniform um die Ecke eilte, ein weißes Band mit einem aufgestickten roten Kreuz um den Arm gewunden.
    Erst im Büro las er den dazugehörenden Artikel. Er sagte kaum etwas aus. Ihre Familie hatte gestern Abend erklärt, dass sie gestorben war. Irgendwann im Lauf der vorangegangenen Nacht hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Sie war zweiundachtzig Jahre alt geworden, hinterließ zwei Töchter, zwei Schwiegersöhne, drei Enkelkinder und zahlreiche Großnichten und Großneffen. Die Trauerfeier würde in San Miniato abgehalten.
    Pallioti faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die unterste Schreibtischschublade. Er hatte an diesem Morgen zwei Besprechungen. Enzo war zurzeit mit Ermittlungen beschäftigt, die möglicherweise den nächsten großen Betrugsfall betrafen. Und er war mal wieder mit dem Bürgermeister zum Mittagessen verabredet.
    Erst als er davon zurückkam und um kurz nach drei in sein Büro trat, entdeckte er den Brief. Er lag mitten auf seiner Schreibunterlage. Auf der Vorderseite stand nur sein Name ohne eine Adresse. Er kannte die Handschrift nicht, trotzdem wusste er sofort, wer ihn geschrieben hatte.
    Pallioti griff nach dem dicken, cremefarbenen Umschlag, blieb stehen und wog ihn in seiner Hand. Er sah aus dem Fenster. Es war ein klarer, wunderbarer Maitag. Kleine weiße Wölkchen ballten sich zusammen und verwehten im nächsten Moment. Als Kind hatte man ihm erzählt, dass die Wolken von den Schlägen der Engelsflügel über den Himmel getrieben wurden.
    Er trat aus seinem Büro. Guillermo sah auf. Als er den Umschlag sah, zog er die Stirn in Falten.
    »Ich weiß nicht, wie der hierhergekommen ist, Dottore. Ich nehme an, der Wachdienst weiß Bescheid. Jedenfalls lag er hier, als ich aus der Mittagspause kam.«
    Pallioti nickte.
    »Hoffentlich ist er nicht … vielleicht sollten Sie ihn lieber nicht öffnen. Ich bringe ihn nach unten und lasse ihn noch einmal durchleuchten. Oder ich rufe den Wachdienst. Diese Vollidioten.«
    Guillermo griff schon nach seinem Telefon, aber Pallioti schüttelte den Kopf.
    »Machen Sie sich keine Gedanken, Guillermo«, sagte er. »Das ist schon in Ordnung.«
    »Woher wollen Sie das wissen? Dottore, es könnte …«
    »Es ist nichts weiter«, sagte Pallioti. »Wirklich nichts. Nur ein Brief aus dem Jenseits.«
    Auf der Piazza tummelten sich die Tauben und die Touristen. Der Blumenverkäufer hatte eine neue Reihe von bunten Zinkeimern aufgestellt. Leuchtendes Rot und Gelb und das tiefe Violett der ersten Irisblüten erstrahlten über den grauen Steinplatten. Unter der Loggia stand auf einer Holzkiste ein lorbeerbekränzter Pantomime in einem weißen Bettlaken. Als Pallioti an ihm vorbeiging, wandte er sich um, ein Dante mit ausgestreckter Hand.
    Die Bank stand am anderen Ende des Platzes. Die meisten Menschen wussten nichts von ihr, weil sie im Schatten und halb verdeckt hinter der nicht besonders ansehnlichen Statue einer Persönlichkeit aus
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