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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
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20. Juni, 1968 Donnerstag
    Aufgewacht von flachem Knallen im Park, Schüssen ähnlich. Unerschreckt stehen Leute an der Bushaltestelle gegenüber. Hinter ihnen spielen Kinder Krieg.
    Unser Stand an der 96. Straße ist verhängt. Keine Zeitungen wegen Todesfalls. Der Alte hätte doch hinschreiben sollen, ob er selber der Tote ist. Auch die wöchentliche Ware ist zugedeckt mit verwittertem Plastiktuch. Die Kunden treten regelmäßig heran, stutzen erst wenige Schritte vor den grabähnlichen Packen, ziehen in verlegenem Bogen ab. Niemand versucht etwas zu stehlen. Wer dann immer noch Schlaf bei sich trägt, erwartet auf dem von Hand beschriebenen Karton: Geschlossen aus Anstand gegenüber … wem?
    In der Unterführung der Ubahn geht ein Junge mit Schädelkappe vorüber an einem Whisky-Plakat, da hat jemand gleich zweimal in Schönschrift aufgetragen: Fickt die jüdischen Säue. Der Junge hält den Kopf, als hätte er es übersehen.
    Im Grand Central war noch eine New York Times übrig. Wetter teils sonnig, teils kühl. Behalten: das Foto des Adolf Heinz Beckerle, früheren deutschen Gesandten in Bulgarien, angeklagt wegen Mithilfe bei der Deportation von 11 000 Juden ins Todeslager Treblinka im Jahr 1943. Weil er an Ischias leidet, liegt er auf einer Bahre, bürgerlich bekleidet zwischen Kopfkissen und Decken; sorgsam tragen zwei frankfurter Polizisten ihn die Treppe zum Gericht hinauf. Frankfurt am Main.
    Manchmal gelingt das letzte Aufwachen an dem Wasserbrunnen vor dem Durchgang zum Graybar-Haus. Heute hängen da zwei Herren, beugen abwechselnd sich vor, nehmen den Kopf hoch wie die Hühner, betäuben ihre Alkoholschmerzen.
    Der Bettler vor dem Ausgang hat heute einen roten Eimer für seinen Hund.
    Etwa dreißig Leute können bezeugen, daß Mrs. Cresspahl um 8 : 55 ihr Büro betrat und den Dienst erst um 4 : 05 Uhr verließ!
    In der nachgezogenen Mittagspause, um viertel fünf hat der Haarkünstler Boccaletti den einzigen Termin in der ganzen Woche für seine Mrs. Cresspahl gefunden. Im Wartezimmer sitzen die anderen vom Abonnement, unter ihnen die beiden Damen, die es lieben, einander mit zärtlicher Besorgnis anzureden, befriedigt in der Gewißheit, daß die eine doch immer noch schlechter dran ist als die andere. Das hat sich schon auf der Flucht gezeigt, wissen Sie noch, in Marseille. Mrs. Cresspahl hätte gern noch mehr gehört von diesem Deutsch, aber Signor Boccaletti ruft sie eilends heran wie sonst nicht. Es geht ihm nicht um Zeitgewinn bis zur nächsten Kundin, er will klagen über den weiten weiten Weg bis Bari, wo es anders zugeht als hier. Zwei Hände voll Seifenschaum wirft er in die Luft, erst so kann er ausrufen: Signora, uccidere per due dollari? Ma!
    (Giorgio Boccaletti, Madison Avenue, wird gebeten, in der Seufzerspalte der Times mitzuteilen – Diskretion zugesichert –: Von welchem Betrag an denn es sich lohnt.)
    Verspätungen auf dem Expreßgleis der Westseite. Der Lautsprecher verspricht knurrend, mit jeder Wiederholung brummiger: Der Bummler hält an allen Schnellstationen, zu der verzerrten Stimme ist ein Mensch nicht zu denken, und da halten muß ein Lokalzug doch so wie so. Mitgekommen bin ich erst mit dem dritten Zug, in dem war zu wenig Luft zum Atmen.
    Zehn Minuten stand ich vor einem Plakat mit der Aufforderung Support Our Servicemen. Darunter war ein S. O. S. in Morseschrift abgebildet, darunter ein Foto, auf dem ein weißer Soldat einem schwarzen eine Blutlösung eintropfen läßt. Unterstützt unsere Soldaten. Links, unter rotem Kreuz: Hilf uns helfen. Nach Amanda Williams’ zuverlässigen Auskünften soll dies Plakat heimlich bedeuten: Die Amerikaner sind in äußerster Not in Viet Nam.
    Dann drehten zwei Negerinnen sich in einer nahezu synchronen Bewegung um ihre Körperachse, bewegten ihre Nachbarn mit, so daß ich von dem Plakat abgewandt stehen konnte.
    Auf dem Broadway taumelte ein vielleicht betrunkener Neger in einen Delikatessenladen und begrüßte den Inhaber mit einem Wort, das kann ich nicht. – Wenn Sie das nicht gern hören, können Sie ja verschwinden! schreit er. Er schwankt weiter zwischen den Vitrinen und hält eine Aufstandsrede, die versteht nun keiner mehr. Der Inhaber beobachtet den Feind, leicht gekrümmt, die Hände auf den Kassentisch gestützt, mit nicht ärgerlichem Blick unter den Brauen hervor.
    Zu Hause hat Marie Blumen. Es waren einmal ein Dutzend Päonien, zu sechs Dollar. – Da war eine Puertorikanerin mit ihrem kleinen Kind, neun Jahre
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