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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Autoren: Wolfgang Detel
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Aristoteles – Kritiker und Innovator
    Es war ungefähr im Jahre 360 v. u. Z., als sich eines Tages die führenden Mitglieder der platonischen Akademie zu einem wichtigen Treffen im großen Vorlesungssaal der Schule einfanden. Unter ihnen befand sich ein junger Thraker von etwa vierundzwanzig Jahren, der damals bereits rund sieben Jahre in der platonischen Akademie gelebt, studiert und gearbeitet hatte. Er wusste wie alle anderen Anwesenden auch um die Bedeutung des Ereignisses, das an diesem Tage stattfinden sollte. Platon (ca. 428–348 v. u. Z.), mit seinen fast siebzig Jahren immer noch ein kreativer Denker, wollte seinen neuesten Dialog unter dem Namenstitel
Parmenides
veröffentlichen, d. h. von einem gebildeten Sklaven erstmals vorlesen lassen. Als der Vorleser an jenem Morgen den Vorlesungssaal betrat, herrschte knisternde Spannung. Denn es wurde allgemein erwartet, dass Platon endlich zu den schweren Angriffen gegen seine Formentheorie Stellung nehmen würde, die in den Jahren zuvor seitens einiger führender Akademiemitglieder, z. B. des Mathematikers Eudoxus, formuliert worden waren.
    Auch der junge Thraker hatte sich an dieser Kritik beteiligt und wird daher am Tage der Parmenides-Vorlesung besonders gespannt gewesen sein. Und er wird sich, eitel und ehrgeizig, wie er zuweilen sein konnte, nicht wenig geschmeichelt gefühlt haben, als er die Szenerie des neuen platonischen Dialoges kennen lernte: Ein junger, eigenständig denkender Mann mit Namen »Sokrates« formuliert höflich, aber unverblümt die Probleme, die er mit der frühen platonischen Formenlehre verknüpft sieht – unter ihnen auch jene, die der Thraker selbst vorgebracht hatte; und der Gesprächspartner des Sokrates, ein erfahrener philosophischer Meister namens Parmenides, nimmt die Kritik ernst, warnt ihn aber [8] auch vor allzu raschen Antworten und schlägt eine längere und schwierige philosophische Denkübung als Vorbereitung zur Klärung der Probleme vor. Dazu greift er sich als Dialogpartner einen jungen Mann heraus, der Aristoteles heißt (Plat. Parm. 126a–136e, 137b–c).
    Für das Auditorium der Parmenides-Lesung stand fest, dass Platon mit dieser Szenerie das kritische philosophische Engagement des jungen Thrakers Aristoteles (ca. 384–322 v. u. Z.) öffentlich anerkennen wollte, ihn aber zugleich zu weiteren philosophischen Überlegungen ermunterte und ihm höchstes philosophisches Niveau zutraute. Die Szenerie des Dialogs
Parmenides
ist eines von vielen Indizien dafür, dass die platonische Akademie nicht, wie man lange Zeit angenommen hat, nach Art eines pythagoreischen Ordens organisiert war, in dem nur das Wort des Schulgründers zählte, sondern eine Stätte freier und offener philosophischer Debatten unter gleichberechtigten Mitgliedern war, an denen sogar Frauen teilnehmen durften. 1 Das Zusammentreffen zweier der intelligentesten Menschen, die die Geschichte hervorgebracht hat, im anregenden intellektuellen Ambiente einer offenen philosophischen Gemeinschaft führte zu einem einzigartigen theoretischen Innovationsschub. Platon als Wegbereiter neuer Ideen und Aristoteles als Vollender, der den vagen neuen Ideen erst ihre präzise Gestalt gab – dieser Konstellation verdanken wir unsterbliche Erfindungen: Dialektische Argumentationstheorie, formale Logik, analytische Wissenschaftstheorie, monistische Psychologie, wissenschaftliche Biologie, essenzialistische Metaphysik, empirische Theorie des Stadtstaates und Ökonomie, Ethik des guten Lebens, Rhetorik und Poetik – all diese Disziplinen wurden von Aristoteles nicht nur erfunden und entwickelt, sie enthielten auch zentrale Ideen, die die Geschichte des westlichen Denkens mehr als zwei Jahrtausende bestimmen sollten. Die einzigartige Innovationskraft seines philosophischen Denkens steht daher im Mittelpunkt dieser Einführung.

[9]
Dialektik und Analytik
    Die sokratische Idee, so wie Platon sie gedeutet hat, ist im Kern die Forderung, nicht einfach unter dem Diktat unserer natürlichen urwüchsigen Wünsche und Begierden durchs Leben zu trudeln, sondern zu klären, was ein gutes Leben für uns wäre, welche Art von Mensch wir sein wollen und wie wir unsere Vorstellungen von einem guten Leben realisieren könnten. Dieser Klärungsversuch muss, der sokratischen Idee zufolge, von einer kritischen und argumentativen Prüfung verschiedener Entwürfe von Lebensprojekten begleitet sein. Wir sollten also ein geprüftes Leben führen. Damit treten wir in das Spiel des
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