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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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wir nicht. In einer Scheune brach ich zusammen. Und dort wurde das zweite – dritte, wenn man den Schusswechsel vor dem Theater mitrechnet – meiner neun Leben gerettet.
    Die Familie war noch auf dem Hof geblieben, zu dem die Scheune gehörte. Sie hatten ihren Sohn in der Schlacht um Monte Sole verloren, darum brauchten sie nur einen Blick auf mich zu werfen und wussten Bescheid. Einen Monat lang versteckten diese guten Menschen mich und den Hund. Sie schienten und verbanden meinen Arm. Sie fütterten mich mit dem Löffel wie ein Baby. Einmal verlegten sie mich, gleich am Tag nach meiner Ankunft, als die Überreste der Fallschirmjägerdivision über den Hof getrottet kamen. Damals gaben sie mir die Waffe. Die Sauer. Ihr Sohn hatte sie ihnen dagelassen. Er hatte sie einem toten deutschen Offizier abgenommen. Letztendlich rettete sie ihm nicht das Leben, dafür hätte sie mir meines retten können. Einmal kamen Soldaten in die Scheune und machten eine Stunde Rast. Wir hörten sie direkt unter uns Deutsch sprechen, der Hund und ich. Ich drückte ihn an mich, aber er machte keinen Mucks. Falls sie uns hörten, falls sie das Stroh rascheln hörten, müssen sie geglaubt haben, es seien Ratten, oder aber sie waren zu erschöpft, als dass es sie noch gekümmert hätte. Zwei Tage und Nächte kauerten wir auf dem Heuboden – und lauschten den Unterhaltungen gebrochener Männer, dem Jaulen der Motoren, dem endlosen Getrappel einer Armee auf dem Rückzug.
    Bis es mir wieder so gut ging, dass ich meinen Weg fortsetzen konnte, war es Juni. Als ich mich verabschiedete, bestand die Familie darauf, dass ich die Waffe mitnehmen solle. Der Hund und ich wanderten hauptsächlich nachts. Die degli Dei ist so schön unter dem Mond – falls Sie noch nie darauf gewandert sind, sollten Sie das unbedingt tun. Es war Sommer. Wir schliefen in Hütten oder im Wald. Diese guten Menschen hatten mir einen Rucksack voll Proviant mitgegeben. Ich brauchte sechs Tage, um nach Fiesole zu gelangen. In der Morgendämmerung stand ich endlich dort oben und blickte auf Florenz hinab.
    Den Rest wissen Sie mehr oder weniger. Oder Sie ahnen ihn. Nebenbei bemerkt hatte ich das alles nicht geplant. Ich hatte nicht geplant, mich tot zu stellen oder mich in Donata Leone zu verwandeln. Ich wollte eigentlich nach San Verdiana, um meine Mutter zu finden. Dann wollte ich mich mit ihr nach Neapel durchschlagen und dort Caterina finden. Erst als ich zum Rathaus kam – ich brauchte Papiere: Meine hatte ich in der Jacke stecken lassen –, begriff ich, was passiert war.
    Ich hatte inzwischen einen Strick als Leine für den Hund besorgt – bis dahin hatte ich ihn Piri getauft –, und wir standen wie alle anderen in der Schlange, Flüchtlinge, die alles verloren hatten, neben der Wand, an der die Listen der Toten aufgehängt waren. Mamas Namen entdeckte ich zuerst. Sie war im Winter 1944 in San Verdiana gestorben. Dann sah ich Caterinas Namen. Caterina Cammaccio. Und meinen – Laura Bevanelli.
    Im ersten Moment geriet ich in Panik. Ich dachte, ihr müsste in Neapel etwas zugestoßen sein. Dann sah ich genauer hin und las, dass Cati angeblich in Bologna ums Leben gekommen war, und plötzlich wurde mir alles klar. Sie war damals schon längst nicht mehr Caterina Cammaccio – Caterina und Isabella Cammaccio hatten sich in Luft aufgelöst, die beiden waren nach Ravensbrück deportiert worden. – Falls man entkam, wurde man, wie ich Ihnen erzählt habe, trotzdem als »deportiert« geführt. Sie hätten auf keinen Fall zugegeben, dass ihnen jemand entkommen war. – Ich begriff sofort, was passiert war. Die CLN hatte mich als tot gemeldet, weil jemand nach unserer Gruppe gesucht hatte und bei dem Bauernhof meine Jacke gefunden hatte. Das rote Buch hatte in der Innentasche gesteckt, in der ich es immer aufbewahrt hatte, und der Finder hatte es ans Rote Kreuz weitergegeben, falls meine Familie irgendwann danach suchen sollte. Doch vorn in dem Buch stand Catis Name. Darum wurde auch sie als tot geführt.
    Ich stand in der Schlange und dachte nach.
    Natürlich hatte ich mir ununterbrochen den Kopf darüber zerbrochen – in Verona, in Mailand, in dieser Scheune –, was wohl in der Via dei Renai geschehen war. Und wenn ich ganz ehrlich bin, haben Sie wahrscheinlich recht – zum Teil kehrte ich tatsächlich zurück, um die Wahrheit herauszufinden. Aber ich hatte keine Ahnung, wer uns nun wirklich verraten hatte oder was er inzwischen trieb. Und als ich darüber nachdachte,
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