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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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davon verwendete ich auf eine ganz neue Frisur – ich veränderte mein Aussehen von Grund auf. Und ich kaufte mir etwas Anständiges zum Anziehen.
    Ich begegnete in all den Jahren nur zwei Menschen, die mich erkannten. Zum einen Signor Cavicalli – obwohl ich gestehen muss, dass ich nicht weiß, welcher es war. Auch da hatten Sie natürlich recht. Er und sein Bruder waren Zwillinge. Carlo und ich hatten sie mitsamt ihrer Familie während der letzten Fahrt im Winter 1943 aus Florenz herausgeschmuggelt. Das war jene Fahrt, für die Caterina so teuer bezahlen musste. Es war ein harter, mühsamer Marsch. Und gefährlich, weil unsere Päckchen so schlecht ausgerüstet waren, so ausgekühlt und übermüdet. Carlo trug das kleine Mädchen über große Strecken auf dem Rücken, und ich hatte Angst um die junge, kränkelnde Frau. Aber sie überlebten. Alle. Und wie Sie so richtig bemerkten, so etwas vergisst man nicht. Signor Cavicalli hatte es jedenfalls nicht vergessen. Er sah mich eines Nachmittags auf dem Markt. Damals war er schon ein junger Mann. Wahrscheinlich ein Student in den ersten Semestern und dünn und drahtig wie eine Bohnenranke. Trotzdem erkannte ich ihn sofort, so wie er mich erkannte. Unsere Blicke trafen sich. Wir wechselten kein Wort. Wir blieben nur kurz in der Menge stehen und gaben uns unseren Erinnerungen hin, bis seine Freunde ihn riefen und er sich mit einer kleinen Verbeugung abwandte.
    Der zweite Mensch, der mich erkannte, war Emmelinas Nichte. Das war einige Jahre später, als ich gerade meine älteste Tochter bekommen hatte. Ich trat aus einem Laden, das Kind im Arm, als ich auf der anderen Straßenseite eine Frau bemerkte, die mich ansah. Im ersten Moment konnte ich sie nicht recht einordnen. Dennoch hatte sie mich erkannt. Das begriff ich sofort. Wir hatten uns beide so verändert. Wir hatten uns beide das letzte Mal als junge Frauen gesehen. Dann begriff ich – das war Emmelinas Nichte. Wir starrten uns kurz an, dann lächelten wir und gingen jeweils unserer Wege. Ich kann Ihnen nur sagen, ich war felsenfest überzeugt, dass mein Geheimnis bei beiden sicher aufgehoben blieb.
    Ich spitzte die Ohren, ich hielt immer die Augen offen und bewarb mich um eine Anstellung in Cosimos Bank, sobald ich erfahren hatte, was er plante. Schließlich wurde ich als Sekretärin genommen. Und dann hörte ich, dass Cosimo Freiwillige suchte, Angestellte, die ihm in ihrer Freizeit halfen, Papiere zu sichten und Menschen für »Gedenkt der Gefallenen« aufzuspüren. Also meldete ich mich. Ich warf mich ihm nicht an den Hals. Aber ich machte mich nützlich und arbeitete mich durch die Unterlagen. Akte um Akte, Karton um Karton.
    Anfangs empfand ich die eigentliche Arbeit als Nebensache – das Bezahlen von Umzügen, Büchern und Kleidung und das Aufspüren von verschollenen Familienangehörigen. Ich hatte nur eines im Sinn. Ich war auf der Jagd. Ich wusste nicht, wonach. Ich wusste nur, dass ich eine Witterung aufgenommen hatte. Damit hatten Sie ganz recht. Als ich endlich auf jene Seiten aus der Villa Triste stieß, auf jene Einträge, die »bewiesen«, dass alle hingerichtet worden waren, war ich enttäuscht. Nicht wegen der beiden anderen – vor allem wegen Massimo. Ich wusste es. Ich hatte immer gewusst, dass etwas faul an ihm war. Er war ein Schwein. Ein aufgeblasenes, eitles, tyrannisches Schwein. Ich habe es genossen, ihn zu töten. Es tut mir leid, aber so war es. Aber das kam viel später.
    Schließlich verliebte sich Cosimo in mich und ich mich in ihn. Nicht so wie damals in Carlo. Keine Liebe reicht an die erste große Liebe heran – und natürlich dauert die erste Liebe nie so lange an, dass es kompliziert werden könnte. Bei Cosimo war es anders. Er war ein wunderbarer Mann. Und falls Sie sich das fragen sollten, ich erzählte ihm alles. Wirklich alles. Bevor wir heirateten.
    Beinahe fünfzig Jahre lang waren wir glücklich. Glücklicher, als es irgendwer verdient hätte. Vielleicht hörte ich insgeheim nie auf zu suchen, hörte ich nie auf, die Zeitungen nach Namen zu durchforsten, die mit JULIA zu tun haben könnten. Aber es war kein Zwang mehr. Es war einfach immer da, so wie mein steifer Arm – etwas, mit dem ich zu leben gelernt hatte. Ich hatte zwei schöne Töchter. Ich hatte ein schönes Leben. Selbst Piri genoss ein schönes Leben. Er liegt in unserem Garten begraben. Als Cosimo starb, war ich sehr traurig. Aber das war der natürliche Lauf der Dinge. Er war zehn Jahre älter als ich.
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