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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur
Autoren: Michael Theurillat
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Kapitel 1
    Das Mädchen Judith
    W enn ein Vater sein Kind nicht will, dann macht er sich aus dem Staub. Am besten vor der Geburt. Das Kind bleibt noch eine Weile im Bauch der Mutter, wird geboren und von ihr großgezogen. Allein oder zusammen mit einem neuen Partner. Das ist ein Unglück – aber keine Katastrophe.
    Anders sieht es aus, wenn eine Mutter ihr Kind nicht will; dann ist die Sache komplizierter: Der Vater wird sich nicht selbstverständlich um es kümmern, sie kann es abtreiben oder nach der Geburt weggeben. Wenn sie verzweifelt ist, wird sie ihr Baby bekommen und verlassen.
    Das ist Mord.
    Babys werden in Mülltonnen und auf Parkbänken gefunden. Auch im Winter. Auf Parkplätzen von Autobahnraststätten und im Wald. Oft kommt jede Hilfe zu spät. Und dann gibt es noch die, von denen keiner Kenntnis hat, weil sie nie gefunden wurden …
    Bruder John folgte in groben Zügen dieser Argumentation, als er während eines Kolloquiums im Benediktinerkloster Einsiedeln zu seinen Ordensbrüdern sprach.
    Es war ein Augustnachmittag im Jahr 1995 .
    Die Quecksilbersäule in Zürich verzeichnete mit zweiunddreißig Grad Celsius einen Höchstwert, doch auf der Anhöhe in Einsiedeln, rund vierzig Kilometer südöstlich der Stadt, herrschten tiefere Temperaturen.
    Der Geist von Sankt Benedikt wirkte schon über tausend Jahre an diesem Ort, seit der Heilige Meinrad, Einsiedler aus dem Finsteren Wald, im Jahr 835 den Orden gegründet hatte. Gefördert von Bischöfen und Adelsfamilien, erreichte er bis ins Jahr 1100 eine erste Hochblüte und strahlte als geistliches und kulturelles Zentrum über Alemannien hinaus bis nach Nord­italien.
    Im Strudel politischer und gesellschaftlicher Wirren verlor die Fürstabtei zunehmend an Einfluss. Bis auf einen einzigen Mann reduziert, trotzte die Bruderschaft schließlich der Reformation. Es waren dunkle Jahre, an deren Ende neues Leben erwachte. Denn in der Folge entwickelte sich Einsiedeln zu einem internationalen Wallfahrtsort und zum Mittelpunkt der katholischen Schweiz. Wie eine Eiche, die alle Stürme überlebt hat und noch immer Früchte trägt, waren sich die Ordensbrüder ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Dennoch gab man sich demütig – ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Zürich –, man wollte mit nichts protzen. Und doch: Der prächtige Barockbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, die kostbar ausgestattete Kirche und die kunstvoll verzierten Säle; die Stiftsbibliothek von Weltruhm und die über tausendjährige Pferdezucht – all dies vermochte das selbstauferlegte Gelübde der Bescheidenheit nicht ganz widerzuspiegeln.
    In der Arbeitsklause im Westflügel des Klosters war es angenehm kühl. Der Abt Sebastian Watter, ein bedächtiger, weißhaariger Mann, und die vier Mönche, die der Sitzung beiwohnten, folgten den Ausführungen des Vortragenden recht unbeteiligt. Keiner von ihnen war jemals verheiratet gewesen und demzufolge auch noch nie im Leben Vater geworden. Aber sie waren alle weltlich genug, um sich menschliche Katastrophen aller Art vorstellen zu können.
    Bevor Bruder John zu seinem eigentlichen Anliegen vordrang, machte er eine kurze Pause. Er hatte viele Wochen lang über einen geeigneten Namen nachgedacht: Ort des Lebens –  Hoffnungsbox  – Babykasten . Sie schienen ihm alle noch recht unausgegoren, so dass er sie erst gar nicht erwähnte.
    »Wir sollten verzweifelten Müttern eine Anlaufstelle bieten – ihnen eine Möglichkeit geben, ihr Baby abzugeben. Bei uns. Anonym. Natürlich in der Hoffnung, dass sie es später wieder abholen. Wenn Gott ihnen in diesen schweren Stunden beisteht, so werden sie sich bei uns melden …«
    An dieser Stelle hielt Bruder John inne und ließ das Gesagte nachwirken. Er beobachtete die nachdenklichen Gesichter seiner Ordensbrüder.
    Keiner sagte ein Wort.
    Stille erfasste den Raum. Eine Ruhe, die Bruder John nicht als unangenehm empfand, denn in den Kolloquien, die sie in Abständen von drei bis fünf Wochen abhielten, war es nicht üblich, dass man sich sofort zu dem vorgebrachten Thema äußerte.
    Es galt, in andächtiger Stimmung über das Gehörte nachzudenken und wohlwollend darüber zu befinden. Darin unterschied sich die Gemeinschaft des Benediktinerordens von den meisten anderen Gemeinschaften der westlichen Welt.
    Bruder John sah zu Sebastian Watter, der am Kopfende des langen Eichentisches saß und die Augen geschlossen hielt. Hinter dem Abt, auf halber Höhe, hing als einziger Schmuck an der weiß
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