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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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ich«, sagte Dimmi. »Da hat’s mal ein Programm im Schulfernsehen drüber gegeben. Das ist nicht genau eine Sage.«
    »Was dann? Wirklichkeit?«
    »Gewiß nicht.«
    »Weder Sage noch Wirklichkeit?«
    »Ein Mythos. Das ist was anderes als eine Sage. Es ist mehr wie ein Kern.«
    »Wo ungefähr hat dieses Atlantis gelegen?«
    Dimmi drehte den erleuchteten Globus etwas und legte sanft die blasse Hand auf den im Glanz der inneren Glühbirne aus den Tiefen erstrahlenden Ozean zwischen Afrika und Südamerika, wobei auch die Finger des Kindes von gespenstischem Schein beleuchtet wurden: »Hier ungefähr. Aber das ist egal. Es ist mehr in Gedanken.«
    »Sag mal, Dimmi, meinst du, es gibt noch was, nachdem man gestorben ist?«
    »Warum nicht?«
    »Glaubst du, daß Großvater uns jetzt hört?«
    »Da gibt’s nicht so viel zu hören.«
    »Aber könnte es sein?«
    »Warum nicht?«
    »Und können wir ihn auch hören?«
    »In unseren Gedanken. Ja.«
    »Bist du traurig?«
    »Ja. Wir beide. Aber wir trennen uns nicht. Wir können uns weiter liebhaben.«
    »Und dann? Soll man sich nicht mehr vor dem Tod fürchten?«
    »Das ist doch unmöglich.«
    »Sag mal, Dimmi, hast du heute abend überhaupt Abendbrot gegessen?«
    »Ich bin nicht hungrig.«
    »Dann gib mir die Hand.«
    »Warum?«
    »Einfach so. Zum Fühlen.«
    »Was fühlen?«
    »Einfach so.«
    »Genug. Fima. Hör auf. Geh zu deinen Freunden zurück.«
    Hier wurde das Gespräch unterbrochen, weil Dr. Wahrhaftig – prustend und schnaubend mit gerötetem Gesicht – hereinstürmte, nicht wie ein Trauergast, sondern wie jemand, der hier pflichtgemäß angestürzt kam, um auf der Stelle einen Skandal zu beenden. Fima vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, weil er plötzlich leichte Ähnlichkeit zwischen Wahrhaftig und Ben Gurion, der seinen Vater vor vierzig Jahren in der Raschba-Straße angebrüllt hatte, entdeckte. In Begleitung des Arztes erschien Tamar Greenwich – zaghaft, mit Tränen in den Augen, der gute Wille in Person. Fima wandte sich ihnen zu, ließ geduldig Händedruck und Umarmung über sich ergehen, begriff jedoch nicht, was sie sagten. Aus irgendeinem Grund murmelten seine Lippen geistesabwesend: »Macht nichts. Nicht so schlimm. Das kann passieren.«
    Offenbar kriegten auch sie kein Wort mit. Und akzeptierten schnell ein Glas Tee.
    Um halb acht Uhr abends, wieder in seines Vaters Sessel, die Beine gemütlich übereinandergeschlagen, lehnte Fima den Joghurt und das Matjesbrötchen ab, das Teddy ihm vorsetzte. Entfernte Uris Arm von seiner Schulter. Und verzichtete auf die Wolldecke, die Schula ihm über die Knie breiten wollte. Den braunen Umschlag, den er vorher Ninas Aktenkoffer entnommen hatte, gab er ihr unvermittelt zurück mit der Aufforderung, ihn zu öffnen und das Testament laut zu verlesen.
    »Jetzt?«
    »Jetzt.«
    »Obwohl es üblich ist –«
    »Obwohl es üblich ist.«
    »Aber Fima –«
    »Jetzt bitte.«
    Nach einigem Zögern und raschem Blickwechsel mit Zwi, Jael und Uri beschloß Nina zu gehorchen. Zog zwei engbeschriebene Schreibmaschinenseiten aus dem Umschlag hervor. Und begann in der Stille, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte, zu lesen, erst leicht verlegen und dann mit ihrer professionellen Stimme, die fließend, gleichmäßig und trocken klang.
    Zuerst kamen detaillierte, pedantische Anweisungen für Beerdigung, Gedenkfeier und Grabstein. Dann folgte der materielle Teil. Boris Baruch Numberg befahl, zweihundertvierzigtausend US-Dollar zu ungleichen Teilen sechzehn Institutionen, Organisationen, Verbänden und Komitees zu spenden, deren Namen in alphabetischer Reihenfolge, jeweils mit der betreffenden Summe daneben, aufgeführt waren. Zuoberst auf der Liste erschien der Ausschuß zur Förderung des Pluralismus und am Schluß – eine Talmudschule. Nach der frommen Oberschule und vor den Unterschriften des Verstorbenen, des Notars und der Zeugen standen die folgenden Zeilen: »Abgesehen von dem Grundbesitz Reines-Straße in Tel Aviv, über den nachstehend in der Anlage Verfügung getroffen wird, gehen meine sämtlichen Vermögenswerte erblicherweise an meinen einzigen Sohn, Efraim Numberg Nissan, der hervorragend zwischen Gut und Böse unterscheidet, in der Hoffnung, daß er sich von nun an nicht mehr mit der Unterscheidung begnügen, sondern sein Glück und seine ganz ausgezeichneten Fähigkeiten dem Bemühen widmen wird, das Gute zu tun und den Zugriff des Bösen soweit wie möglich einzuschränken.«
    Über den Unterschriften
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