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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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Anwesenheit von Zeugen. Wir dachten bloß –«
    »Wer hat dir das erlaubt?«
    »Um ehrlich zu sein –«
    »Wo ist es jetzt, dieses Testament?«
    »Hier. In meinem Aktenkoffer.«
    »Gib’s mir.«
    »Jetzt?«
    Fima stand auf, nahm ihr den schwarzen Koffer aus der Hand, klappte ihn auf und entnahm ihm einen braunen Umschlag. Schweigend trat er auf den Balkon hinaus, um allein genau an der Stelle zu stehen, an der seine Eltern an jenem Schabbatabend vor tausend Jahren gestanden hatten, als sie ihm wie zwei Gestrandete auf einer Insel vorkamen. Das letzte Tageslicht war längst verloschen. Stille wehte von der Allee empor. Die Straßenlaternen flimmerten in gelblichem Glanz, der sich mit wabernden Nebelschwaden vermischte. Die steinernen Häuser standen sämtlich stumm und verschlossen da. Kein Laut drang aus ihnen. Als habe sich dieser gegenwärtige Augenblick in eine ferne Erinnerung verwandelt. Ein flüchtiger Windstoß wehte Hundegebell aus dem Kreuztal herauf. Der dritte Zustand ist eine Gnade, die zu erlangen man sich jeglichen Willens entledigen und unter dem Nachthimmel stehen muß, alterslos, geschlechtslos, zeitlos, volklos, ohne alles.
    Aber wer kann so dastehen?
    Einst, in seiner Kindheit, hatte es hier in Rechavia höfliche kleine Gelehrte gegeben, Menschen wie aus Porzellan: staunend dreinblickend und sanft im Umgang. Sie hatten die Angewohnheit, einander auf der Straße zu grüßen, indem sie den Hut zogen. Als löschten sie damit Hitler aus. Als holten sie ein Deutschland aus der Versenkung hervor, das es nie gegeben hatte. Und da sie lieber für zerstreut und lächerlich gehalten wurden, als gegen die Sitten des Anstands zu verstoßen, lüfteten sie den Hut auch dann, wenn sie nicht sicher waren, ob der Entgegenkommende ein Freund oder Bekannter war oder nur einem Freund oder Bekannten ähnlich sah.
    Eines Tages, als Fima neun Jahre alt war, kurze Zeit vor dem Tod seiner Mutter, hatte er seinen Vater die Alfassi-Straße hinunter begleitet. Baruch blieb stehen und unterhielt sich lange, auf deutsch oder auch tschechisch,mit einem rundlichen, gepflegten alten Herrn in einem altmodischen Anzug mit schwarzer Fliege, bis der Junge die Geduld verlor, mit den Füßen aufstampfte und gewaltsam am Arm des Vaters zu zerren begann. Der ihm eine Ohrfeige versetzte und ihn mit ty Durak, ty Smarkatsch (du Dummkopf, du Rotznase) anbrüllte. Hinterher erklärte er Fima, das sei ein Professor und Forscher von Weltruhm gewesen. Und erläuterte ihm, was Weltruhm bedeutet und wie man ihn erwirbt. Diese Lektion vergaß Fima nie wieder. Und stets weckte dieser Ausdruck ein aus Ehrfurcht und Spott gemischtes Gefühl bei ihm. Ein andermal, sieben bis acht Jahre später, um halb sieben Uhr morgens, ging er wieder mit seinem Vater spazieren, in der Raschba-Straße, und da kam ihnen mit kleinen, raschen Schritten Ministerpräsident Ben Gurion entgegen, der seinerzeit Ecke Ben-Maimon-Ussischkin-Straße wohnte und den Tag mit einem schnellen Morgenmarsch zu beginnen pflegte. Baruch Numberg zog den Hut und sagte: »Würden Sie mich bitte entschuldigen und mir nur einen kleinen Moment Ihre Gunst erweisen, mein Herr?«
    Ben Gurion blieb stehen und rief: »Lufatin! Was machst du denn in Jerusalem? Wer soll da auf Galiläa aufpassen?«
    Baruch erwiderte gemächlich: »Ich bin nicht Lufatin, und Sie, mein Herr, sind nicht der Messias. Obwohl Ihre törichten Chassidim Ihnen das sicher ins Ohr flüstern. Bitte nehmen Sie sich vor denen in acht und glauben Sie nicht daran!«
    Der Ministerpräsident sagte: »Was? Sie sind nicht Grischa Lufatin? Vielleicht irren Sie sich? So eine Ähnlichkeit. Sie sehen ihm sehr ähnlich. Na, es hat ja auch zwei Jossi ben Schimon gegeben. Und wer sind Sie dann?«
    Worauf Baruch entgegnete: »Ich zähle nun gerade zum gegnerischen Lager.«
    »Lufatins Gegnern?«
    »Zu den Ihren, werter Herr. Und ich erlaube mir zu sagen ...«
    Aber Ben Gurion stürmte schon weiter und sagte nur noch im Gehen: »Na, dann streiten Sie man. Nichts wie gestritten. Nur daß Sie mir vor Streitfreude nicht verabsäumen, diesen netten Burschen da zu einem loyalen, vaterlandsliebenden Bürger Israels und einem Beschützer seines Volkes und Landes zu erziehen. Alles andere ist egal.« Und damit trabte er weiter, gefolgt von einem bildschönen Mann, der offenbar die Aufgabe hatte, ihn vor Störenfrieden zu bewahren.
    Baruch sagte: »Dschingis-Khan!« Und fügte dann hinzu: »Sieh selber,Efraim, wen die Vorsehung sich auserwählt hat,
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