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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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begonnen, in der ich ihr nun eine Tochter zeugen müsse, und ich fragte, wo wir seien und wo jene Kinder, denn unterwegs hatte sich das Mädchen in mehrere Kinder verwandelt. Die Frau sagte: ›Karla.‹ Ich konnte nicht wissen, ob Karla nun der Name des Mädchens oder auch dieser Frau selbst war, die meine Schulter an ihren Busen drückte, oder ob sie kar-la , ›ihr ist kalt‹, meinte, bezogen auf die Nacktheit der mageren kleinen Mädchen oder gedacht als Aufforderung, sie zu liebkosen, damit ihr warm werde. Als ich sie umarmte, zitterte sie am ganzen Leib, nicht begehrlich, sondern verzweifelt, und flüsterte mir, wie jenseits jeder Hoffnung, zu: ›Fürchte dich nicht, Efraim, ich kenne einen Weg und werde dich lebendig auf die arische Seite bringen.‹ Im Traum klang dieses Wispern verheißungs- und gnadenvoll, so daß ich ihr weiter gläubig vertraute und freudig folgte, ohne daß im Traum die geringste Verwunderung aufgekommen wäre, wieso sie sich plötzlich in meine Mutter verwandelt hatte und wo die arische Seite sein mochte. Bis wir ans Wasser gelangten. Am Ufer stand breitbeinig ein Mann in dunkler Uniform mit militärisch gestutztem blonden Schnurrbart und sagte: ›Man muß trennen.‹
    Auf diese Weise stellte sich heraus, daß ihr wegen des Wassers kalt war und ich sie nicht wiedersehen würde. Ich wachte traurig auf, und selbst jetzt, da ich diese Eintragung beende, ist die Trauer nicht vorüber.«

2.
Fima steht zur Arbeit auf
    Efraim kletterte in verschwitzter Unterwäsche aus dem Bett, sperrte die Jalousielamellen ein wenig und blickte aus dem Fenster auf den Beginn eines Jerusalemer Wintertags. Die nahen Häuser erschienen ihm nicht nah, eher fern von ihm und voneinander, und niedrige Nebelfetzen trieben zwischen ihnen hindurch. Kein Lebenszeichen regte sich draußen. Als dauere der Traum an. Aber jetzt war das keine Kopfsteingasse mehr, sondern ein schäbiges Sträßchen am Südwestende von Kiriat Jovel – zwei Reihen breiter, plumper Siedlungsbauten, Ende der fünfziger Jahre schnell und billig hochgezogen. Die Bewohner hatten die meisten Balkons mit Zementblöcken, Asbestplatten, Glas und Aluminium zugebaut. Hier und da hingen leere Blumenkästen und vertrocknete Topfpflanzen an einem rostigen Geländer. Im Süden sah er die Bethlehemer Berge, die mit einer grauen Wolke verschmolzen und an diesem Morgen häßlich, ja richtig dreckig wirkten, als türmten sich dort an Stelle von Bergen riesige Haufen Industriemüll. Ein Nachbar hatte wegen der Kälte und Feuchtigkeit Mühe, seinen Wagen in Gang zu bekommen: Der Motor röchelte und verstummte und röchelte erneut lange und heiser wie ein Sterbenskranker, der trotz seiner bereitszerfressenen Lungen pausenlos weiterraucht. Wieder überkam Fima das Gefühl, er befinde sich irrtümlich hier und müsse eigentlich an einem gänzlich anderen Ort sein.
    Aber was der Irrtum war und wo dieser andere Ort lag, wußte er diesen Morgen nicht, ja, hatte es eigentlich noch nie gewußt.
    Das Ächzen des Motors weckte seinen Morgenhusten, worauf er sich vom Fenster löste, da er den Tag nicht in Müßigkeit und Trauer beginnen wollte. Aus eben diesem Grund sagte er sich: Faulpelz!, wandte sich um und begann mit einfachen Streck- und Beugeübungen vor dem Spiegel, dessen Fläche von schwarzen Inseln und Kontinenten übersät war, deren gewundene Küstenlinien vor Buchten und Fjorden wimmelten. Dieser Spiegel prangte außen an einer Tür des uralten braunen Kleiderschranks, den ihm sein Vater vor rund dreißig Jahren gekauft hatte. Vielleicht hätte er die Frau fragen sollen, zwischen was er zu trennen hatte, aber dazu war es nun zu spät.
    Für gewöhnlich verabscheute Fima das Herumhängen am Fenster. Und vor allem konnte er den Anblick einer am Fenster stehenden Frau – Rücken zum Zimmer, Gesicht nach draußen – nicht ertragen. Vor der Scheidung hatte er Jael dauernd in Rage gebracht, weil er sie jedesmal anbrüllte, wenn sie so dastand und auf die Straße oder das Gebirge hinausschaute.
    »Was, verstoße ich schon wieder gegen die Hausordnung?«
    »Du weißt doch, daß mich das nervös macht.«
    »Dein Problem, Effi.«
    Aber an diesem Morgen machten ihn auch die Gymnastikübungen vor dem Spiegel nervös und schlapp, so daß er zwei, drei Minuten später damit aufhörte – nicht ehe er sich noch einmal als Faulpelz betitelt und verächtlich schnaufend hinzugefügt hatte: »Ihr Problem, mein Herr.«
    Vierundfünfzig Jahre war er alt. Und in den Jahren des
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