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Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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I
    Mein Großvater war ein angesehener Theologe an der Christus-Universität, bis er aus dem Amt entlassen wurde, weil man ihm vorwarf, Irrlehren zu verbreiten. Er hatte eine prophetische Schrift verfasst, basierend auf Texten, die ihm in Träumen erschienen waren, und bot ein dreiteiliges Wahlseminar an, in dem er seine Theorie erläuterte. Die Universitätsleitung ließ ihn zunächst gewähren, da er der bekannteste Wissenschaftler auf seinem Gebiet war und sich nur drei Studenten für das Seminar eingeschrieben hatten. Im Lauf des Semesters kamen jedoch immer mehr Studenten zu Großvaters Prophezeiungsstunden, bis er darum bitten musste, die Aula für seinen Unterricht benutzen zu dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Unternehmungen allerdings schon bei allen wichtigen Universitäten des Landes herumgesprochen, und die Kirchenleitung ordnete eine Untersuchung an. Diese wurde von Bischof Jean Sebastian, dem höchsten Würdenträger vor Ort, geleitet. Während der Untersuchung wurden das Lehrbuch und sämtliche Kopien davon konfisziert und zur Beurteilung an Sachverständige weitergegeben. Bei der abschließenden Sitzung von Kirche und Universitätsleitung verkündete Sebastian die Ergebnisse der Kommission. Laut Protokoll sagte er unter anderem:
    »Sofern sich das ansonsten kryptische Buch von Professor Johannes von Blomsterfeld deuten lässt, besteht kein Zweifel, dass er sich darin als Prophet darstellt, oder mit seinen eigenen Worten:
Ich bin der Traumnebel, der die Worte Gottes mit blitzender Stimme regnen lässt.
Professor von Blomsterfeld drückt sich so aus, als verfüge er über unumstößliches Wissen. Er hält es nicht nur für vorstellbar, dass schon bald eine neue Art von Erlöser erscheint,wie ihn die Menschheit noch nie erblickt hat; er hält es nicht nur für wahrscheinlich, dass ein solcher Retter kommt – nein, Professor von Blomsterfeld behauptet, dass ein solcher Erlöser bereits geboren worden wäre und irgendwo unter uns lebe. Und dieser Heiland, der uns, wie Professor von Blomsterfeld behauptet, in wenigen Jahren erscheine, sei ein gar wundersames Wesen; ein derart absonderliches Wesen ließe sich kaum mit gedruckten Worten beschreiben. Und Professor von Blomsterfeld ist so bescheiden zu sagen, dass er dieses Wunderwesen nicht selbst erfunden habe, nein, er sagt wortwörtlich:
Dann wird sie erscheinen, die das Herz der Bibel ist, obwohl dort nur wenige Worte über sie stehen.
«
    Beim anschließenden Prozess wurde Großvater für schuldig erklärt, die Leute fehlgeleitet zu haben, indem er Aberglaube und Prophezeiungen als Wissenschaft und Lehre ausgegeben habe, sowie dafür, im Namen des christlichen Glaubens »Ideen verkündet zu haben, die nach der Beurteilung von Fachleuten nicht im Christentum verwurzelt, sondern ganz im Gegenteil aus christlicher Sicht pure Ketzerei sind«, wie es im Gerichtsurteil heißt. Ihm wurde untersagt, weiter an öffentlichen Universitäten zu unterrichten, und obgleich es nicht möglich war, ihm zu verbieten, eine eigene Schule zu gründen und sein Buch zu verbreiten, wurde ihm das erschwert, da die Ankläger seine prophetische Abhandlung nie zurückgaben. Sebastian behauptete, das Exemplar sei an die Manuskriptabteilung des Vatikans geschickt worden, auf Wunsch der dortigen Gelehrten, und Großvater könne es dort abholen. Aber im Vatikan wusste niemand etwas über das Buch. Soweit ich mich erinnern kann, sprach Großvater zu Hause nie darüber, und als ich ins Teenageralter kam und es wagte, ihn danach zu fragen, sagte er nur, das Buch von der Rückkehr der Jungfrau Maria sei verlorengegangen. Er wollte mir nichts überdessen Inhalt erzählen, und wenn ich ihn mit Fragen löcherte, antwortete er nur, es sei besser für mich, an etwas anderes zu denken. Und das tat ich.
    Ich wollte schon immer Wissenschaftler werden wie Großvater, und wir verbrachten jede Minute, die er für mich erübrigen konnte, in der großen Bibliothek und lasen, schrieben und unterhielten uns. Damals war ich nur ein Kind, das zwischen Büchern lebte und gedieh, die nichts Geringeres enthielten als die Worte Gottes und der wichtigsten Propheten. Doch nach dem Vorfall an der Universität schlug Großvater kein Buch mehr auf und wollte auch nicht, dass ich den Tag mit Schmökern verbrachte. Ich weiß noch, dass ich auf dem erhöhten Stuhl an meinem großen Schreibtisch saß, denselben Goldregenfüller in der Hand wie jetzt, und in den Apokryphen las, als er mich zu sich zitierte
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