Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
1.
Verheißung und Gnade
    Fünf Tage vor dem Unheil hatte Fima einen Traum, den er morgens um halb sechs Uhr in sein Traumbuch eintrug. Dieses braune Büchlein lag stets unter dem Stapel zerflederter Zeitungen und Hefte am Fußende des Bettes auf dem Boden. Fima hatte sich angewöhnt, in aller Frühe, beim ersten Morgengrauen zwischen den Jalousieritzen, noch im Bett zu notieren, was er bei Nacht gesehen hatte. Hatte er gar nichts gesehen oder das Gesehene vergessen, knipste er trotzdem die Nachttischlampe an, blinzelte ein wenig, setzte sich auf, legte sich irgendeine dicke Zeitschrift als Schreibunterlage auf die angewinkelten Knie und vermerkte zum Beispiel:
    »Den zwanzigsten Dezember – leere Nacht.«
    Oder:
    »Den vierten Januar – irgendwas mit Fuchs und Leiter, aber die Einzelheiten sind ausgelöscht.«
    Das Datum schrieb er in Worten, nicht Zahlen. Danach stand er zum Pinkeln auf und legte sich wieder aufs Ohr, bis draußen Taubengurren und Hundebellen aufklangen und irgendein Vogel in der Nähe sich anhörte, als traue er seinen Augen nicht vor Verblüffung. Fima nahm sich dann vor, sofort aufzustehen, in zwei, drei Minuten, höchstens einer Viertelstunde, nickte aber manchmal wieder ein und schlief dann bis acht oder neun Uhr durch, da seine Arbeit in der Praxis immer erst um ein Uhr nachmittags begann. Im Schlaf, fand er, gab es weniger Lügen als im Wachen. Obwohl er längst begriffen hatte, daß die Wahrheit außerhalb seiner Reichweite lag, wollte er soweit wie möglich von den kleinen Lügen des Alltags loskommen, die als feiner Staub in die verstecktesten Ecken und Winkel drangen. Montag früh, als ein orangen trüber Schimmer zwischen den Lamellen hindurchzusickern begann, setzte er sich im Bett hoch und vermerkte folgendes in seinem Büchlein: »Eine nicht gerade schöne, aber attraktive Frau rauschte herein, trat jedoch nicht vor meinen Aufnahmeschalter, sondern kam trotz des Schilds Zutritt nur für Personal hinter mir herein. ›Meine Dame‹, sagte ich, ›Fragen nur von vorn, bitte.‹ Sie lachte. ›Kennen wir schon, Efraim, kennen wir‹, sagte sie. Obwohl ich ja garkeine Klingel habe, sagte ich: ›Beste Frau, wenn Sie nicht rausgehen, muß ich läuten.‹ Doch auch diese Worte reizten sie nur zu einem leisen, sympathischen Lachen, das wie ein Strahl reinen Wassers perlte. Sie war schmalschulterig, der Hals ein wenig faltig, aber Busen und Bauch wölbten sich sanft, und die Waden steckten in Seidenstrümpfen mit geschwungener Naht. Ihre wohlgerundete, gelöste Gestalt wirkte sinnlich und rührend zugleich. Oder vielleicht berührte einen gerade der Gegensatz zwischen dem strengen Lehrerinnengesicht und der guten Figur. ›Ich habe ein Kind von dir‹, sagte sie, ›es wird Zeit, daß unsere Tochter dich kennenlernt.‹ Obwohl ich wußte, daß ich den Arbeitsplatz nicht verlassen durfte und es gefährlich war, hinter ihr herzugehen – noch dazu barfuß, denn das war ich plötzlich –, machte ich mir innerlich ein Zeichen: Falls sie ihr Haar mit der linken Hand auf die linke Schulter vorstreicht, heißt es mitkommen. Sie wußte Bescheid, zog mit leichter Geste das Haar nach vorn, so daß es über das Kleid bis zur linken Brust fiel, und sagte: ›Komm.‹ Ich folgte ihr durch etliche Straßen und Gassen, Treppenhäuser, Tore und mit Steinfliesen gepflasterte Höfe der spanischen Stadt Valladolid, die aber eigentlich mehr oder weniger dem Bucharenviertel hier in Jerusalem glich. Obwohl die Frau in dem kindlichen Baumwollkleid und den aufreizenden Strümpfen eine Fremde war, der ich noch nie begegnet war, wollte ich gern das Mädchen sehen. So passierten wir Hauseingänge, die uns in Hinterhöfe voll behangener Wäscheleinen führten, erreichten von dort aus wieder neue Gassen und weiter schließlich einen alten Platz, auf dem eine Laterne im Regen leuchtete. Denn es hatte angefangen zu regnen, nicht stark, nicht in Strömen, ja fast ohne Tropfen, eher Niederschlag der hohen Feuchtigkeit in der langsam dunkelnden Luft. Keiner lebenden Seele begegneten wir unterwegs. Nicht mal einer Katze. Plötzlich stoppte die Frau in einem Flur, der Reste bröckelnder Pracht aufwies – Eingang zu einem orientalischen Palast vielleicht oder auch nur ein Tunnel zwischen einem feuchten Hof zum nächsten mit kaputten Briefkästen und geborstenen Kacheln –, nahm mir die Armbanduhr ab und deutete auf eine zerrissene Armeewolldecke im Treppenwinkel, als habe mit dem Ablegen der Armbanduhr eine Entblößung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher