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Lindenallee

Lindenallee

Titel: Lindenallee
Autoren: Katrin Rohde
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1
    Magarete stand am Fenster und starrte in Gedanken versunken hinaus. Um sie herum war es still, nur die Pendeluhr in der Ecke des Wohnzimmers schlug gleichmäßig ihren Rhythmus. Aus der Küche war das leise Surren des Kühlschrankes zu hören.
    In der Hand hielt sie ein silbernes Herz, es drehte sich an der langen Kette und ließ nur verschwommen die filigrane Handwerkskunst erahnen. Die Minuten vergingen, Magaretes Augen waren in die Ferne gerichtet und blickten in eine Zeit zurück, in der sie ein junges Mädchen gewesen war. Damals hatte sie das silberne Herz von dem wundervollsten Menschen geschenkt bekommen, den sie je kennengelernt hatte. Ihr Herz in der Brust begann schneller zu schlagen, als sie an Friedrich dachte.
    Überraschend ließ sie die Hand sinken. Das silberne Schmuckstück fand Ruhe in ihrer linken Hand, die es schützend auffing. Hätte es eine Stimme gehabt, hätte es zufrieden geseufzt.
    Ihr Blick kehrte in die Gegenwart zurück, denn ein Ereignis direkt vor ihr auf der Straße nahm ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Von ihrer Parterrewohnung aus beobachtete sie einen Sportwagen, der vorm Haus hielt. Magarete besaß kein Faible für Autos, dennoch schätzte sie den Wagen als wertvoll ein. Hinter dem Luxusauto mutete der graue Umzugswagen wie ein altertümliches Gefährt an, das schnaufend anhielt. Das ratternde Motorengeräusch erstarb, während sich die Tür des kleinen Autos öffnete und eine große Frau ausstieg.
    Magarete spähte neugierig durch die zugezogenen Gardinen und beobachtete, wie sich die Frau streckte und ihren Blick zum Haus hinüberwandern ließ. Auf ihrem Gesicht lag ein schwer zu deutender Ausdruck, als sie die Autotür zuschlug und die Männer aus dem Umzugswagen heranwinkte.
    Magarete spürte, wie etwas in Bewegung kam, und es hatte mit dieser Frau vor dem Haus zu tun. Grübelnd rieb sie sich die Stirn. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, dachte sie, denn eine neue Nachbarin bedeutete auf jeden Fall eine Veränderung. Dennoch fühlte sie eine seltsame Anziehung zu diesem Neuankömmling, die sie sich bei Weitem nicht erklären konnte. Magarete blickte in ihre flache Hand: Das silberne Herz funkelte hell, als wäre es neu, dabei besaß sie es schon weit über siebzig Jahre. Es schien beinahe so, als ob es mit der Ankunft der jungen Frau zu neuem Leben erwachte.
     

2
    Die junge Frau stand neben dem Wagen und dehnte vorsichtig den Rücken. Das Auto mag ja ganz schick sein, überlegte sie, aber für längere Fahrten ist es absolut ungeeignet. Ihr Blick streifte kurz ihr neues Heim, als sie den Männern der Umzugsfirma winkte. Sie bemerkte nicht, wie sie sowohl durch die geschlossenen Gardinen, als auch von einer weiteren Person genauestens beobachtet wurde.
    Die zweite Beobachterin schnaubte leise. „Wie kann sich ein so großer Mensch nur in einen solch kleinen Wagen quetschen?“ Ihrer Schätzung nach betrug die Größe der Frau über einen Meter siebzig. Die kurz geschnittenen, dunklen Haare trug sie zu einer modischen Frisur, die Figur beurteilte sie als schlaksig und dünn. Auf ihrem Gesicht war deutlich ein gewisser Unmut oder sogar Ärger abzulesen. Die junge Frau kramte gerade ihr Handy aus der Hosentasche.
    „Hallo Mama, wir sind jetzt angekommen“, sprach sie hinein, während sie die andere Hand in der Hüfte abstützte. „Nein, mach dir keine Sorgen, das schaffe ich schon. Wir sind etwas in Verzug wegen des Staus auf der Autobahn.“
    Sie wurde am anderen Ende unterbrochen und lauschte schweigend dem Redeschwall. Sie seufzte, holte tief Luft und fuhr energisch, aber freundlich dazwischen. „Mama, das können wir doch auch morgen besprechen. Ich muss jetzt zusehen, dass wir ausladen. Die Leute der Umzugsfirma wollen irgendwann Feierabend machen. Die kriegen eh schon so viel Geld, weil sie an einem Sonntag arbeiten. Unglaublich, davon können sie in den Ruhestand gehen“, übertrieb sie.
    Weiter kam sie nicht, denn die Stimme am anderen Ende der Leitung redete aufgeregt dazwischen. Sie lauschte einen Moment geduldig. „Mama, ich lege jetzt auf!“ Die junge Frau grinste trotz der Drohung. „Ja, ich habe dich auch lieb. Grüße Papa von mir. Ich melde mich. Bussi.“
    Seufzend steckte sie das Handy in die Tasche. Der Fahrer der Umzugsfirma stand wartend hinter ihr. „Kann es losgehen?“
    „Ja, ich schließe Ihnen auf.“ Die Frau bewegte sich auf die Haustür zu und zog aus ihrer Jackentasche den Schlüssel.
    „Hier können Sie nicht stehen
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