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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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Alleinseins hatte er sich angewöhnt, gelegentlich mit sich selber zu reden. Diese Angewohnheit zählte er zu seinen Hagestolzticks – zusammen mit dem Verlieren des Marmeladenglasdeckels, dem Stutzen der Haare in nur einem Nasenloch unter Vergessen des zweiten, dem Öffnen des Hosenreißverschlusses aus Zeitersparnisgründen schon auf dem Weg zur Toilette, dem Danebenzielen zu Beginn des Pinkelns und dem Betätigen der Wasserspülung mittendrin, um durch das laute Plätschern der stotternden Blase auf die Sprünge zu helfen, bemüht, noch bei laufendem Wasserstrom fertig zu werden, so daß stets ein Wettlauf zwischen der Klosettspülung und seinem eigenenWasser einsetzte. Als ewiger Verlierer bei diesem Rennen blieben ihm dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder er nahm – das Glied in der Hand – die ärgerliche Warterei in Kauf, bis der Behälter wieder vollgelaufen war und die Schüssel erneut gespült werden konnte, oder er fand sich damit ab, den Urin bis zum nächstenmal auf dem Wasser schwimmen zu lassen. Da er jedoch weder nachgeben noch seine Zeit mit Warten vergeuden wollte, pflegte er den Hebel vor der gänzlichen Auffüllung des Behälters zu betätigen. Damit löste er ein verfrühtes Rinnsal aus, das zwar nicht zur Säuberung des Beckens ausreichte, ihm aber erneut die ärgerliche Alternative zwischen Abwarten und ergebenem Rückzug aufzwang. Dabei gab es doch so einige Liebschaften und Ideen in seinem Leben, auch ein paar Gedichte, die seinerzeit Erwartungen geweckt hatten, Gedanken über den Sinn der Welt, klare Auffassungen über das gegenwärtig ziellose Treiben des Staates, detaillierte Vorstellungen für die Gründung einer neuen politischen Bewegung, diese und jene Sehnsüchte und das ständige Verlangen, ein neues Kapitel anzufangen. Und da stand er hier nun allein in seiner verschlampten Wohnung an einem trüben, regnerischen Morgen, in den erniedrigenden Kampf versunken, den Hemdenzipfel aus den Zähnen des Hosenreißverschlusses freizukriegen. Und währenddessen leierte ihm ein nasser Vogel draußen unablässig einen Satz von drei Noten vor, als sei er zu dem Schluß gelangt, Fima sei geistig zurückgeblieben und werde nie verstehen.
    Durch das Aufspüren und genaue, detaillierte Aufzählen seiner Altherrengewohnheiten hoffte Fima von sich selbst wegzukommen, eine spöttische Distanz herzustellen und so seine Sehnsüchte oder seine Ehre zu schützen. Doch gelegentlich offenbarte sich ihm, wie durch Erleuchtung, dieses gründliche Nachspüren nach lächerlichen oder zwanghaften Angewohnheiten nicht als Befestigungslinie, die ihn von dem alten Hagestolz trennte, sondern gerade als eine List des alternden Junggesellen mit dem Ziel, ihn, Fima, wegzudrängen und abzuschütteln, um seinen Platz einzunehmen.
    Er beschloß, zum Kleiderschrank zurückzukehren und sich im Spiegel zu betrachten. Wobei er es als seine Pflicht ansah, beim Anblick seines Körpers weder Verächtlichkeit noch Verzweiflung oder Selbstmitleid zu empfinden, sondern sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Im Spiegel blickte ihm ein blasser, leicht übergewichtiger Angestellter mit Speckfalten um die Taille entgegen, ein Büromensch in nicht sehr frischer Wäsche, mitspärlich schwarzbehaarten weißen Beinen, die im Verhältnis zum Bauch zu mager wirkten, ergrauendem Haar, hängenden Schultern und schlaffen Männerbrüsten am keineswegs sonnengebräunten Oberkörper, dessen Haut hie und da von Fettpickeln befallen war, unter denen einer sich rötlich entzündet hatte. Diese Pickel begann er nun vor dem Spiegel mit Daumen und Zeigefinger auszudrücken. Das Platzen der kleinen Abszesse und das Herausquellen des gelblichen Fetts bereiteten ihm leichten Genuß, ein hämisch vages Vergnügen. Fünfzig Jahre, eine wahre Elefantenschwangerschaft lang, war dieser abgetakelte Schreibtischmensch im Schoß des Kindes, des Jünglings und des Mannes angeschwollen. Und nun, nach Ablauf von fünfzig Jahren, war die Schwangerschaft beendet, die Gebärmutter aufgeplatzt, und der Schmetterling hatte eine plumpe Larve geboren. In dieser Larve – Golem auf gut hebräisch – erkannte Fima sich selbst.
    Und doch entdeckte er dabei, daß die Dinge sich eben jetzt verkehrten, daß im tiefsten Innern der Larve von nun an und für immer das Kind mit den staunenden Augen und den zarten langen Gliedmaßen verborgen lag.
    Das von einem leisen Grinsen begleitete Sichabfinden vermengte sich manchmal mit seinem Gegenteil – der innigen Sehnsucht des Kindes,
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