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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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Daheimseinsgefühl und innerer Freiheit eine Spannung oder sogar ein Gegensatz bestand. Den wohl nicht einmal Joeser und seine glücklichen Freunde, die in hundert Jahren hier an unserer Stelle leben würden, aufzuheben vermöchten.
    Um fünf Uhr morgens nickte er in voller Kleidung ein, worauf er bis elf Uhr vormittags durchschlief. Und als er dann aufwachte, geschah es nicht aus eigenem Antrieb: Die Freunde kamen erneut, um bei ihm zu sitzen und seine Trauer zu mildern. Die Frauen brachten volle Essenstöpfe mit, und auch die Männer taten ihr Bestes, Fima mit Gunst und Mitgefühl, Wärme und Zuneigung zu päppeln. Wieder und wieder versuchten sie ihn in politische Diskussionen hineinzuziehen, bei denen Fima nicht mitmachen wollte, sich aber doch gelegentlich herabließ, ein Lächeln beizusteuern. Oder ein Kopfnicken. Andererseits rief er Dimmi an und freute sich riesig zu hören, daß der Junge Interesse an der Briefmarken- und der Münzsammlung hatte, vorausgesetzt, Fima ging eine Partnerschaft mit ihm ein. Und verschwieg, um sich eine Überraschung für später aufzusparen, die Hundertschaften von Zinnsoldaten aus seiner Kindheit, die er in einer versteckten Schublade für seinen Challenger gefunden hatte.
    Am Abend, nach Schabbatende, stand Fima plötzlich auf, schlüpfte in den Wintermantel seines Vaters, ließ all seine Freunde sitzen und Trauer hüten und ging zum Luftschnappen weg, wobei er versprach, in einer Viertelstunde zurückzusein. Am nächsten Morgen um acht wollte er schon in den Werksbüros im Gewerbezentrum Romema erscheinen. Die Beerdigung war ja für drei Uhr nachmittags anberaumt, so daß er sich noch vorher dort ein wenig ein Bild machen konnte. Aber heute abend durfte er noch einmal, ein letztes Mal, ziellos umherschlendern.
    Der Himmel war schwarz und wolkenlos, und die Sterne taten ihr Möglichstes, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Als sei der dritte Zustand eine selbstverständliche Tatsache. Berauscht durch die Jerusalemer Nachtluft, vergaß Fima seine sämtlichen Versprechungen. Statt nach dem Spaziergang zu seinen Freunden zurückzukehren, beschloß er, die Trauergepflogenheiten zu ignorieren und sich einen kleinen Urlaub zu gönnen. Warum sollte er sich nicht endlich, allein, die Komödie mit Jean Gabin ansehen, über die er nur Gutes gehört hatte? An die zwanzig Minuten stand ergeduldig vor der Kasse an. Schließlich kaufte er eine Karte für die erste Abendvorstellung, betrat den Saal kurz nach Beginn des Films und setzte sich in eine der letzten Reihen, die fast leer waren. Doch nach einiger Ratlosigkeit und Verwunderung wurde ihm klar, daß die Komödie mit Jean Gabin bereits abgesetzt war und man von heute abend an hier einen anderen Film zeigte. Fima beschloß daher hinauszugehen und zu sehen, was es in dem schönen alten Viertel Nachlat Schiw’a Neues gab, dessen Gassen er von Kind an geliebt und erst vor einigen Nächten mit Karla durchstreift hatte. Aufgrund der Müdigkeit und vielleicht auch, weil ihm leicht und frei ums Herz war, blieb er trotzdem auf seinem Kinostuhl sitzen, in den Mantel seines Vaters gehüllt, starrte auf die Leinwand und fragte sich, warum und wozu die Figuren im Film einander unablässig alle möglichen Leiden und Kränkungen zufügten. Was hinderte sie eigentlich daran, sich gegenseitig ein wenig zu schonen? Es würde ihm nicht schwerfallen, den Filmhelden, so sie ihm nur einen Augenblick lauschen würden, eines zu erklären: Falls sie versuchen wollten, sich hier wie zu Hause zu fühlen, müßten sie einer vom anderen und jeder von sich selber ablassen. Sich bemühen, gut zu sein. Wenigstens soweit wie möglich. Zumindest solange die Augen sehen und die Ohren hören, und sei es auch unter zunehmender Müdigkeit.
    Gut sein, aber in welcher Hinsicht?
    Die Frage erschien ihm spitzfindig. Denn es war alles einfach. Ohne Anstrengung folgte er dem Lauf der Dinge. Bis ihm die Augen zufielen und er im Sitzen einschlief.
    1989–1990
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