Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco
Autoren: Hanni Bayers
Vom Netzwerk:
„It’s an odd thing, but anyone who disappears is said to be seen in San Francisco.
It must be a delightful city and possess all the attractions of the next world.“
    O SCAR W ILDE , S CHRIFTSTELLER UND D ICHTER
    Einleitung
    Mit flinken Zügen malt er den Umriss der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Flugzeugserviette. Dort, wo Hollywood zu liegen scheint, zeichnet er ein Filmsymbol, bei New York eine Freiheitsstatue, für das Boston-Baseballteam einen roten Socken. „Und wo ist San Francisco?“, frage ich. Wo ist die kleine Landzunge, die von fast allen Seiten vom Meer umgeben ist? Wo schimmert die Golden Gate Bridge in der honiggoldenen Abendsonne und wo tanzen die Blumenkinder mit geflochtenen Haaren und bunten, langen Kleidern?
    Mein Flugzeugnachbar schmunzelt. „San Francisco?“ Seine Brille rutscht ein Stückchen die Nase herunter, und mit einem geschickten Stups schiebt er sie wieder nach oben. „Mein liebes Fräulein – San Francisco gehört doch nicht wirklich zu den Vereinigten Staaten von Amerika.“ Ich stutze. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare, zückt wieder seinen Stift und malt ganz dicht gedrängt an die Außenkante des kalifornischen Nordens eine kleine Insel. „San Francisco ist ein Inselstaat – mit Hügeln, Cable Cars und jeder Menge Raum für Träume und Abenteuer. Wie das Lummerland von Jim Knopf, finden Sie nicht?“ Noch kann ich ihm diese Frage nicht beantworten, und nur vage kann ich erahnen, was mich in der Stadt erwartet, die auch als Parisdes Westens gilt. „Ich wünschte, ich wäre noch mal so jung wie Sie und in San Francisco“, sagt er und skizziert behutsam eine Brücke und eine Lok. „Lediglich ein bisschen Marihuana fehlt in der Geschichte von Michael Ende noch“, fügt er hinzu, und sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten, lautlosen Lachen. „Sie wissen doch sicherlich: Die Ruhmsüchtigen stolzieren nach Los Angeles, der Ehrgeiz rennt nach New York. Der Sinnsucher jedoch wandelt durch San Francisco.“
    Er reicht mir die kunstvoll bemalte Serviette. „Have fun, young lady!“ Dann dreht er den Kopf auf die andere Seite, schließt die Augen und macht ein Nickerchen. Gedankenverloren falte ich die Serviette zusammen und schaue aus dem Flugzeugfenster in die dichte Wolkendecke. San Francisco für Sinnsucher und Abenteurer? Ist es das, was mich dort erwartet? Hoffnungen, Bilder und Ängste vermischen sich in meinem Kopf zu einem bunten Gedankenwirrwarr. Das mit San Francisco, das muss schon irgendwie die richtige Entscheidung gewesen sein, denke ich mir. Im Koffer habe ich jede Menge Vorfreude, Zukunftspläne und über sechzig Kilogramm Gepäck. San Francisco, here I come!

„East is East, and West is San Francisco.“
    O LIVER H ENRY , AMERIKANISCHER S CHRIFTSTELLER
    Januar
Let’s hang out together
    Müde und erschöpft trete ich aus dem Bauch des Fliegers in den stickigen Flughafengang. Noch etwas benommen von der weiten Reise folge ich den anderen Passagieren durch lange Hallen, in denen grell erleuchtete Reklametafeln, Hinweisschilder zu Toiletten, der Gepäckausgabe und der Einwanderungsbehörde an mir vorbeigleiten. Meinen kleinen Handgepäck-Koffer ziehe ich schlaftrunken hinter mir her. Trocken ist die Luft, fast ein wenig muffig, und die eintönigen, beigefarbenen Wände wirken beengend. Nach einigen Minuten finde ich mich in einer großen Halle am Ende einer langen Menschenschlange vor dem Immigration Office von San Francisco wieder. Das also ist die Einlasskontrolle in die Stadt mit den vielen Namen? Hier befindet sich das Tor nach Fog City, Baghdad by the Bay oder The City ?
    San Francisco – jetzt bin ich endlich in der Stadt angekommen, die mich seit der Lektüre von Armistead Maupins „Tales of the City“ (Stadtgeschichten) nicht mehr loslässt. Meine Tante schenkte mir das Buch zum achtzehnten Geburtstag, und ich verschlang den ersten Band innerhalb von zwei Nächten. Bald schon würde ich, genauso wie die junge Hauptfigur Mary Ann Singleton, erfahren, wie frei, multikulturell und liberal San Francisco ist. Ob mich die Stadt wohl genauso fesselt? Wird der Reiz so groß sein, dass ich schon nach kurzer Zeit feststelle, in diese Stadt zu gehören,und für immer bleibe? Schließlich war es doch auch der jungen Mary Ann aus Ohio so ergangen.
    Als mein Arbeitgeber mir im vergangenen Herbst die Chance bot, für ein Jahr in San Francisco zu leben und in unserer amerikanischen Auslandsgesellschaft das Geschäft mit aufzubauen, konnte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher