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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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ist, daß er dieses Kind mehr liebte, als er jemals ein menschliches Wesen auf der Welt geliebt hatte. Einschließlich Frauen. Einschließlich der Mutter des Kindes. Einschließlich seiner eigenen Mutter.
    Jael erhob sich und ging auf ihn zu, als zögere sie, ob sie ihm die Hand drücken oder nur ihre Hand auf seinen Ärmel legen solle. Fima wartete nicht ab, bis sie sich entschieden hatte, kam ihr vielmehr zuvor, umarmte sie fest und drückte ihren Kopf an seine Schulter, als sei nicht er, sondern sie der Mensch, der hier Trost brauchte und verdiente. Als wolle er ihr sein neues Waisentum zum Geschenk machen. Jael murmelte etwas an Fimas Brust, das er nicht verstand und auch nicht unbedingt verstehen wollte, denn er stellte mit Freuden fest, daß Jael, wie Ministerpräsident Ben Gurion, fast einen ganzen Kopf kleiner als er war. Obwohl er selbst nicht besonders groß war.
    Dann löste Jael sich aus seinem Griff und eilte, flüchtete fast, in die Küche, um Schula und Teddy zu helfen, die belegte Brote für alle machten.Fima kam auf die Idee, Uri oder Zwi zu bitten, in seinem Namen die beiden Ärzte und Tamar anzurufen, und warum nicht auch Annette Tadmor? Im Augenblick hatte er den Wunsch, heute abend hier alle Leute zu versammeln, die sein Leben irgendwie berührten. Als plane etwas in seinem Innern, ohne sein Wissen, eine Art Zeremonie zu veranstalten. Eine Predigt zu halten. Den Anwesenden möglichst eine Botschaft zu übermitteln. Zu verkünden, daß von heute an ... Oder vielleicht hatte er die Trauer mit einer Abschiedsfeier verwechselt? Abschied wovon? Und was für eine Predigt? Was hatte ein Mann wie er anderen Menschen zu verkünden? Heiligt und reinigt euch alle für das Kommen des dritten Zustands?
    So oder so überlegte er es sich anders. Verzichtete auf den Versammlungswunsch.
    Trotzdem setzte er sich in jähem Entschluß nicht auf den Platz, den Jael ihm neben dem riesigen Uri auf dem Sofa frei gemacht hatte, sondern in den Sessel seines Vaters. Streckte genüßlich die Beine auf den gepolsterten Fußschemel aus. Rückte bequem auf dem weichen Sitz zurecht, der seinen Rücken aufnahm, als sei er für ihn nach Maß gefertigt. Unwillkürlich pochte er zweimal mit dem Silberknaufstock auf den Boden. Doch als alle verstummten und sich ihm in angespannter Bereitschaft zuwandten, ihm zu lauschen, jede Bitte zu erfüllen, ihn mit Zuneigung und Trost zu überhäufen, lächelte Fima nur verbindlich. Und fragte verwundert: »Was ist das denn für eine Stille hier? Redet ruhig weiter.«
    Zwi, Nina und Uri versuchten ihn durch ein Gespräch, einen leichten Gedankenaustausch über Dinge, die ihm am Herzen lagen, abzulenken – die Situation in den Gebieten, die Darstellung dieser Situation in den italienischen Fernsehsendungen, die Uri sich in Rom angeguckt hatte, die Bedeutung der amerikanischen Fühlungnahmen. Fima ging nicht in die Falle. Begnügte sich damit, sein zerstreutes Lächeln nicht aufzugeben. Ein Weilchen dachte er an Baruch, der jetzt in einem Kühlfach im Keller des Hadassa-Krankenhauses lag, in einer Art Bienenstock von Gefrierschubladen, die teils oder sämtlich mit frischen Jerusalemer Toten bevölkert waren. Fima versuchte in seinen Knochen die Kälte und Dunkelheit der Schublade, den Boden des düsteren Nordmeers, das sich vor der Walfängerstation erstreckt, zu spüren. Fand aber in seinem Innern keinerlei Schmerz. Keine Angst. Ja, ihm war leicht ums Herz, und er begann fast, diesem Untergrundtotenstock mit den Leichenschubladen eine vergnügliche Seite abzugewinnen. Er erinnerte sich an die Geschichte seines Vatersüber den Streit zwischen den Eisenbahndirektoren, dem israelischen und seinem amerikanischen Kollegen, und an die Legende von dem berühmten Zaddik und dem Straßenräuber, die die Kleider tauschten. Er war sich immer noch bewußt, daß er etwas sagen mußte. Und immer noch hatte er keine Ahnung, was er seinen Freunden sagen könnte. Nur wurde dieses Unwissen dünner und dünner. Wie ein Schleier, der nur halb verdeckt. Er stand auf und ging zur Toilette, wo er nun aufs neue entdeckte, daß die Spülung hier bei seinem Vater durch einen einfachen Drehhahn betätigt wurde, den man beliebig, wann immer man wollte – ohne Wettlauf, ohne Niederlage, ohne die ständige Demütigung –, auf- und zudrehen konnte. Dieser Sorge war man also enthoben.
    Zurückgekehrt, kniete er sich neben Dimmi auf die Teppichecke und fragte: »Kennst du die Sage von dem Kontinent Atlantis?«
    »Kenn’
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