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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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prangte noch eine Zeile in energischer Handschrift: »Diese Fassung ist bei wachem Geist und klarem Verstand erstellt, niedergeschrieben und unterzeichnet worden hier in Jerusalem, der Hauptstadt Israels, im Monat Marcheschwan 5749, dem Jahr 1988 nach der Zählung der Völker, dem vierzigsten Jahr der unvollendeten Erneuerung jüdischer Unabhängigkeit.«
    Aus der Anlage ging hervor, daß der Grundbesitz in der Tel Aviver Reines-Straße, von dessen Existenz Fima gar nichts gewußt hatte, ein mäßig großes Wohnhaus war. Das der Alte Dimmi vermachte, »meinem geliebten Enkel, Freude meiner Seele, Israel Dimitri, Sohn von Theodor und Jael Tobias, daß es ihm bei Vollendung seines achtzehnten Lebensjahres zu Erbe werde, bis dahin aber der treuen Verwaltung meiner teuren Schwiegertochter, Frau Jael Numberg Nissan Tobias, geborene Levin, unterstehe – ihr die Früchte und ihrem Sohn das Kapital.«
    Ferner wies die Anlage Fima von nun an als Alleineigentümer einer mittelgroßen, aber soliden, gewinnbringenden Kosmetikfabrik aus. Außerdem sollte ihm die Wohnung gehören, in der er geboren und aufgewachsen war und in der seine beiden Eltern im Abstand von gut vierzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatten. Es war eine große Wohnung mit fünf geräumigen Zimmern und tiefen Fensternischen im dritten Stock in ruhiger, vornehmer Lage, reich möbliert in wuchtigem alten mitteleuropäischen Stil. Weiter erhielt Fima diverse Aktien, Wertpapiere, ein Leergrundstück im Viertel Talpiot, offene und geheime Konten bei mehreren Banken im Inland und in Belgien und einen Panzerschrank, der Bargeld und verschiedene Wertgegenstände, darunter den Schmuck seiner Mutter – Goldund Silberschmuckstücke, mit Edelsteinen besetzt – enthielt. Weiter erbte er eine Bibliothek von mehreren tausend Bänden, darunter Ausgaben des Talmud und anderer heiliger Schriften in rötliches Leder gebunden, eine Sammlung von – zum Teil raren – Midraschim sowie ein paar hundert Romane in russisch, tschechisch, deutsch und hebräisch, zwei volle Regale mit chemischer Fachliteratur in denselben Sprachen, die Gedichte Uri Zwi Greenbergs, darunter seltene, längst vergriffene Sammelbände, Dr. Eldad Scheibs Bibelstudien, die Werke von Graetz, Dubnow, Klausner, Kaufmann und Urbach und auch eine Reihe alter Erotica, sämtlich auf deutsch oder tschechisch – Sprachen, die Fima nicht beherrschte. Daneben besaß er von nun an eine Briefmarkensammlung, eine Sammlung antiker Münzen, neun Sommer- und sechs Winteranzüge, rund fünfundzwanzig Krawatten – etwas altmodisch und konservativ – sowie einen wunderschönen Spazierstock mit Silberknauf.
    Zu diesem Zeitpunkt fragte Fima sich nicht, was er mit all dem anfangen sollte, sondern brütete nur darüber, was ein Mann wie er wohl von Kosmetikproduktion und -vermarktung verstand. Und da die Sprache eine solche Häufung zusammengesetzter Substantive nicht duldet, verbesserte er in Gedanken: Kosmetika – ihre Herstellung und Vermarktung.
    Worauf er sich plötzlich sagte: Duldet nicht. Dann soll sie’s eben nicht dulden.
    Um zehn Uhr abends, nachdem er mit Dimmi ins Schlafzimmer gezogen war und ihm dort einen kleinen Krimi über die Argonauten und das goldene Vlies erzählt hatte, stand er auf und schickte all seine Freunde nach Hause. Hörte nicht auf ihre Bitten und Proteste. Nein, danke, es bestehe keinerlei Grund, daß einer von ihnen hier über Nacht bei ihm bleibe.Nein, danke, er wolle auch nicht zu seiner Wohnung nach Kiriat Jovel gefahren werden. Und er habe keine Lust, bei jemandem von seinen Freunden zu übernachten. Heute nacht wolle er hierbleiben. Wolle mit sich selber allein sein. Ja. Bestimmt. Danke. Nein. Gewiß. Nicht nötig. Jedenfalls schön von euch. Ihr seid alle wunderbare Menschen.
    Als er allein war, hatte er plötzlich Lust, ein Fenster zum Lüften aufzumachen. Doch beim Überdenken beschloß er, das nicht zu tun, sondern im Gegenteil für einige Zeit die Augen zu schließen und möglichst zu klären, woraus genau dieser merkwürdige Geruch bestand, der seit eh und je in dieser Wohnung hing. Unheilsgeruch. Obwohl sich keinerlei Verbindung zwischen dem Geruch und dem heute hier geschehenen Unheil herstellen ließ. Alle Jahre war die Wohnung sauber, gepflegt, aufgeräumt gewesen. Zumindest nach außen hin. Sowohl zu Lebzeiten seiner Mutter als auch nach ihrem Tod. Zweimal die Woche kam eine Hausgehilfin, die sogar die Kerzenhalter, die Messinglampen und die Silberkelche für Kiddusch 30 und
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