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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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    So wird ihr Leben nun also sein. Jeden Tag. Bis ans Ende. Sie steht am Schlafzimmerfenster und sieht, wie Tobias den silbernen BMW-Geländewagen unten in der Auffahrt direkt hinter ihrem schwarzen Mini parkt. Den X5 hatten sie im Frühjahr gekauft und seinen Porsche dafür in Zahlung gegeben. An einem der ersten warmen Tage Anfang März, als sie bereits im vierten Monat schwanger war.
    Jetzt schimmert die Metallic-Lackierung des Autos im matten Licht der Oktobersonne, reflektiert ein paar Strahlen und blendet sie, einen kurzen Moment ist sie wie blind. Tobias steigt aus, geht um den Wagen herum zur hinteren Tür auf der Beifahrerseite. Gedankenverloren streicht sie über ihren flachen Bauch, reibt ihn stärker, so lange, bis sich die Haut unter ihrem T-Shirt erwärmt.
    Tobias öffnet die Tür, beugt sich ins Auto und löst den Gurt vom Maxi Cosi, in dem der kleine Lukas schläft. Selbst vom Fenster aus kann sie sehen, wie ihr knapp zwei Monate alter Sohn zuckt und hektisch an seinem Schnuller nuckelt, als würde er träumen. Jetzt
ist ihre Haut ganz heiß, sie pulsiert, ihr Körper kribbelt, als wäre sie aus einer Wanne mit eiskaltem Wasser aufgetaucht. Seltsam leicht fühlt sie sich, schwerelos, als würde sie jeden Moment forttreiben.
    Sie umklammert den Fenstergriff und schließt für einen Moment die Augen, wartet, bis sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spürt. Dann blickt sie erneut hinunter auf die Straße. Tobias hebt gerade den schweren Karton mit Wochenendeinkäufen von der Rückbank des Autos. Da, wo eigentlich die Babyschale hätte sein sollen. Hätte sein müssen.
     
    Lukas kam in der siebenundzwanzigsten Woche zur Welt. Ende Mai hatten die Wehen eingesetzt, viel zu früh, aber auf dem Weg ins Krankenhaus war sie noch sicher gewesen, dass ihr Kind gesund sei. »So was kommt vor«, hatte auch Tobias gemeint, »wahrscheinlich geben sie dir einen Wehenhemmer oder so, bestimmt musst du nicht mal über Nacht bleiben. Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut.« Aber es wurde nicht gut.
    Nicht mal tausend Gramm wog ihr Sohn, ein kleines Kerlchen mit winzigen Händen und Füßen. Die Schwester legte ihn ihr auf die Brust; sein Körper, weich und vom Mutterleib noch warm, duftete nach Zuhause und Glück, nach Sommertagen am Meer, nach Vanille und süßen Äpfeln. Ganz friedlich sah er aus, als würde er sich nur von den Strapazen der Geburt erholen und bloß ein wenig schlafen. Dabei war er vermutlich bereits eine Woche zuvor gestorben. Das hatten die Ärzte
ihr gesagt. Lukas’ Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen und sein Leben beendet, bevor es hatte beginnen können. Und sie hatte es nicht einmal bemerkt.
    Tobias saß neben ihr am Bett, sprachlos, und streichelte immer wieder über Lukas’ Köpfchen, das schon mit dem ersten dunklen Flaum überzogen war. Wie sein Vater hätte er später ausgesehen, die gleichen schwarzen Locken, die morgens in alle Himmelsrichtungen abstehen und die nur durch konsequentes Kurzschneiden zu bändigen sind. Sie hätten im Park miteinander Fußball gespielt oder wären zum Eishockey gegangen. Vielleicht hätte Lukas auch das musikalische Talent seiner Mutter geerbt. Oder er hätte sich für Filme interessiert, die Wände seines Zimmers über und über mit Kinoplakaten zugeklebt. Ein ungelebtes Leben, von dem niemand wissen kann, wie es verlaufen wäre.
    Nach der Beerdigung und der kleinen Trauerfeier hatte der Pastor sie beiseite genommen, ihr gesagt, dass er mit ihr fühle in ihrem tiefen Schmerz und dass das Leben aber weitergehen müsse. Sie hatte es nicht verstanden. Warum musste das Leben weitergehen? Wer wollte bestimmen, dass es weitergehen musste, wo es doch für Lukas auch nicht weitergegangen war, ja, nicht einmal angefangen hatte? Und für Marlene? Ach, Marlene.
    Was hieß müssen ? Müssen, müssen, müssen. Schule, Studium oder Lehre, Beruf, heiraten zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig, das erste Kind, eigenes Haus, ein Kräuterbeet im Garten, Kochabende mit
Freunden, zweites Kind, irgendwann Schulsorgen, Sommerferien in Südspanien, Italien oder auch mal Dänemark, Auszug der Kinder, Besuche am Wochenende, erst oft, dann immer seltener, Silberhochzeit, die ersten Enkel, Goldhochzeit, Altenheim. Grabstein. Und wozu? Weil das Leben weitergehen muss? Wohin? Wohin soll es gehen, wenn nicht auf direktem Wege auf das Ende zu? Warum ein Dasein erschaffen, das doch endlich ist? Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Die Götter
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