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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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Hawdala polierte. Der Vater selbst pflegte all die Jahre jeden Morgen, Sommer wie Winter, kalt zu duschen. Und alle fünf Jahre wurde die Wohnung frisch gestrichen und generalrenoviert.
    Woher also kam dieser Geruch?
    Seit er, nach Abschluß seiner Wehrdienstzeit, nicht mehr hier wohnte, war ihm dieser Geruch jedesmal unangenehm in die Nase gestiegen, wenn er den Alten besuchte. Ein leiser Anflug von Gestank, stets halb von anderen Gerüchen überdeckt. War es Abfall, der nicht rechtzeitig geleert wurde? Oder Wäsche, die zu lange im Korb auf dem Balkon wartete? Ein Defekt in der Abwasserleitung? Ein Naphtalinhauch aus den Kleiderschränken? Ein feiner Dunst zu schwerer und zu süßer aschkenasischer Speisen? Überreifes Obst im Körbchen? Abgestandenes Wasser in den Vasen, obwohl selbst die Blumen regelmäßig zweimal die Woche gewechselt wurden? Hinter der Eleganz und der Ordnung hing allezeit eine Säuerlichkeit in der Luft, geringfügig und verborgen zwar, aber tiefsitzend und hartnäckig wie Schimmel. War das ein unauslöschlicher Überrest der kondensierten, gläsernen Zuvorkommenheit, die sich hier zwischen Vater und Mutter entsponnen hatte, erstarrt war und auch nach ihrem Tod nicht weichen wollte? Bestand Aussicht, daß sie nun verflog?
    Man könnte meinen, bei dir in Kiriat Jovel herrschten die Wohlgerüchevon Myrrhe und Weihrauch in deiner trotzkistischen Küche, im Flausensack auf dem Balkon und in der verwahrlosten Toilette, dachte Fima spöttisch.
    Er stand auf und öffnete das Fenster. Eine Minute später schloß er es wieder. Nicht wegen der Kälte, sondern weil er sich lieber nicht schon jetzt von dem Unheilsgeruch trennen wollte, an den er sich gewiß nie mehr richtig würde erinnern können, nachdem er ihn einmal verjagt hatte. Besser, er blieb noch ein paar Tage. Die Zukunft begann ja erst. Und eigentlich war es angenehm, jetzt hier in der Küche zu sitzen und bei einem Glas glühendheißen russischen Tee bis tief in die Nacht hinein mit dem Alten zu debattieren. Ohne Lachen oder Leichtsinn. Wie zwei intime Gegner. Weit weg von chassidischen Legenden und allerlei Spitzfindigkeiten, Wortklaubereien, Anekdoten und gewitzten Kalauern. Nicht um den Alten zu reizen, nicht um ihn mittels provozierender Ketzersprüche aus dem Häuschen zu bringen, sondern mit Zuneigung. Wie zwei Landvermesser, die zwei gegnerische Staaten vertreten, aber professionell und freundschaftlich gemeinsam an der exakten Absteckung der Grenze arbeiten. Von Mensch zu Mensch. Um endlich zu klären, was war, was ist, was unwiederbringlich fertig und vorbei ist und was hier vielleicht noch sein könnte, wenn wir uns ihm mit allen verbliebenen Kräften zuwenden.
    Aber was war diese Angelegenheit, die er mit seinem Vater zu klären hatte? Welche Grenze war abzustecken? Was mußte er dem Alten beweisen? Oder Jael? Oder Dimmi? Was hatte er zu sagen, das nicht aus einem Zitat bestand? Oder einem Widerspruch? Oder einer Binsenweisheit? Oder einem witzigen Gag?
    Die Erbschaft belastete ihn nicht, weckte bei ihm aber auch keine Freude. Von Kosmetika verstand er nun wirklich nichts, aber eigentlich hatte er von nichts auf der Welt tiefere Ahnung. Vielleicht lag darin sogar ein gewisser Vorteil, den Fima momentan nicht näher zu definieren suchte. Außerdem hatte er ja keine Bedürfnisse. Abgesehen von den einfachen Bedürfnissen des Lebens – Essen, Wärme und Unterkunft. Und auch keinerlei Wünsche, außer wohl den verschwommenen Wunsch, alle zu versöhnen, Streitigkeiten zu schlichten, hier und da ein wenig Frieden zu stiften. Wie sollte er das machen? Wie wandelt man Herzen zum Guten? Bald würde er schließlich mit den Werksmitarbeitern zusammentreffen müssen, um festzustellen, wie die Arbeitsbedingungen aussahen, zu prüfen, was es dort zu verbessern gab.
    Er mußte also lernen. Lernen konnte er ja. Und deswegen würde er es auch tun. Schrittweise.
    Aber er würde erst morgen anfangen. Obwohl in Wirklichkeit morgen schon heute war: Mitternacht war bereits vorbei.
    Einen Augenblick erwog er, sich angezogen in das Bett seines Vaters zu legen und dort einzuschlafen. Doch einen Moment später meinte er, es sei schade, diese besondere Nacht zu vergeuden. Er mußte sich in der Wohnung umsehen. All ihre Rätsel erkunden. Sich erste Kenntnisse in der Ordnung des Reiches erwerben.
    Bis drei Uhr morgens wanderte Fima durch die Zimmer, machte Schränke auf, durchforschte die Dunkelkammern der schweren schwarzen Kommode, kramte in jeder
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