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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier
Autoren: Ana Veloso
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Rajasthan, März 1616
    M it einem kaum wahrnehmbaren Geräusch landete die Frangipani-Blüte auf der Erde. Das kleine Mädchen, das mit seiner Puppe unter dem Baum saß, schrak auf. Die Blüte lag genau vor ihm, in dem offenen Dreieck, das seine zum Schneidersitz verschränkten Beine bildeten. Hätte man eine Linie von einem Knie des Mädchens zum anderen gezogen, hätte die Frangipani-Blüte exakt deren Mitte beschrieben. Das Mädchen war sich sicher, dass das etwas bedeuten musste. Was genau, danach würde es später seine
ayah
fragen, die in der Deutung solcher Zeichen sehr bewandert war.
    Das Kind betrachtete die Blüte einen Augenblick lang verzückt, bevor es nach ihr griff, sie sich unter die Nase hielt und dann wieder etwas von sich entfernte, um sie intensiv anzuschauen. Der Duft war betörend, doch noch schöner war der Anblick. Ihre fünf wachsgleichen Blütenblätter waren zu einem perfekten Kreis aufgefächert, der im Innern gelb war und nach außen hin weiß wurde. Das Mädchen betastete und untersuchte die Blüte von allen Seiten. Nachdem es an ihr absolut keinen Makel entdecken konnte, weder eine bräunliche Stelle noch ein von Insekten verursachtes Loch, schob es sich die Blüte hinters Ohr.
    Dann fiel eine weitere Blüte herab, die diesmal genau auf dem Scheitel des Mädchens auftraf, bevor sie zu Boden fiel. Auch damit hatte es bestimmt eine besondere Bewandtnis. Das Mädchen beschloss, diese Blüte in den Zopf seiner Puppe zu stecken, der ebenso glänzend, schwarz und lang war wie sein eigener. Auch die Kleidung der Puppe ähnelte der ihrer Besitzerin. Beide trugen seidene Pluderhosen unter einem farblich harmonierenden Hemd. Die Puppe war in Rot-, Orange- und Gelbtöne gewandet, das Mädchen in Blau- und Grüntöne.
    Als die dritte Blüte herabfiel, blieb dem Mädchen keine Zeit, sich über deren Verwendung oder über die Bedeutung der Stelle, an der sie aufgetroffen war, den Kopf zu zerbrechen. Ein lautes Rufen riss es aus seinen Gedanken.
    »Bhavani!«, vernahm es die ärgerliche Stimme seiner
ayah,
der Kinderfrau. »Bhavani, hast du nicht gehört? Du sollst sofort zur Veranda kommen.«
    Bhavani erhob sich unwillig. Bei diesem Tonfall gehorchte man der
ayah
besser. Als sie sich dem Haus näherte, fuhr die Kinderfrau etwas leiser fort: »Ah, immer diese Träumerei, Kindchen, das geht so nicht weiter! Dein
abba
kann doch nicht den ganzen Tag auf dich warten, er ist ein wichtiger Mann und hat Besseres zu tun, als einem zehnjährigen Kind beim Spielen zuzusehen. Und die
karanjis
sind auch schon kalt, nicht, dass dein Bruder dir noch viele übrig gelassen hätte.«
    Bhavani war ebenso erfreut wie verwundert. Ihr
abba,
ihr geliebter Vater, war zu Hause? Warum hatte man sie nicht eher gerufen? Schnell schüttelte sie an der Treppe die Sandalen von den Füßen, rannte die Stufen zur Veranda hinauf und von dort gleich weiter in das Arbeitszimmer, in dem sie ihren Vater vermutete. Die süßen, knusprigen
karanjis,
sonst ihr Lieblingsgebäck, waren ihr jetzt herzlich egal. Wenn es nach ihr ginge, konnte Vijay sie alle aufessen und noch dicker werden. Bhavani riss den Vorhang, der den Flur von dem Arbeitszimmer trennte, beiseite und stürmte in den Raum, bereit, sich jauchzend in die Arme ihres Vaters zu stürzen.
    Ihr Vater jedoch erwartete sie nicht, wie sonst, mit einer überschwenglichen Begrüßung – wenn sie mit ihm allein war und keine kritischen Beobachter sich über die unstandesgemäße Vernarrtheit wundern konnten, nahm er seine Tochter gern in die Arme und wirbelte sie herum. Jetzt aber würdigte er sie kaum eines Blickes, und Bhavani vermutete schon, es müsse sich eine weitere Person in dem Zimmer befinden. Onkel Manesh womöglich, der seinen Bruder immer tadelte, wenn er Bhavani mit allzu großer Zärtlichkeit und Nachgiebigkeit begegnete. Sie blickte sich um, sah aber niemanden sonst. Ihr Vater stopfte hektisch allerlei Dinge in eine große Tasche. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, seine Kleidung sah zerrauft aus. Bhavani lief auf ihn zu und umklammerte seine Beine, doch er schüttelte das Mädchen ungehalten ab.
    »Wir müssen uns beeilen, Bhavani. Später. Später, wenn wir das alles überstanden haben, können wir uns alle umarmen und küssen. Aber jetzt müssen wir uns sputen.« Er hielt kurz inne und sah Bhavani tief in die Augen: »Versprich mir etwas.«
    »Hm … was denn?«
    »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir zu feilschen. Hör mir gut zu. Du musst mir
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