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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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    I ch sah Hundreds Hall zum ersten Mal im Alter von zehn Jahren, in dem Sommer nach Kriegsende. Zu jenem Zeitpunkt besaß die Familie Ayres noch einen Großteil ihres Vermögens und zählte zu den wichtigen und einflussreichen Familien in unserer Gegend. Anlässlich des Empire Day wurde ein großes Fest gegeben, und ich stand in einer Reihe mit den anderen Kindern des Dorfes und salutierte, während Mrs. Ayres und der Colonel vorbeidefilierten und uns Gedenkmünzen überreichten; danach setzten wir uns mit unseren Eltern an lange Tische – vermutlich auf der südlich vom Haus gelegenen Rasenseite – und bekamen Tee gereicht. Mrs. Ayres muss damals ungefähr vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein, ihr Mann ein paar Jahre älter. Und ihre kleine Tochter Susan wird etwa sechs gewesen sein. Sie gaben bestimmt eine sehr schmucke Familie ab, aber ich kann mich nur noch vage an sie erinnern. Am lebhaftesten blieb mir das Haus selbst im Gedächtnis, das mir als Inbegriff eines prächtigen Landsitzes erschien. Ich erinnerte mich noch gut an die zahlreichen würdevoll alternden Einzelheiten: das in die Jahre gekommene Mauerwerk, die welligen Gussglasfenster, die verwitterten Einfassungen aus Sandstein. Sie verliehen dem Haus ein verschwommenes, beinahe ungewisses Aussehen – wie ein Eis, das in der Sonne zu schmelzen beginnt, dachte ich damals.
    Natürlich gab es keine Besichtigungstouren ins Innere des Hauses. Sowohl die Vorder- als auch die Terrassentüren standen zwar offen, doch war jede mit einem Seil oder einem Band versperrt; wir durften lediglich die Toiletten der Stallburschen und Gärtner im Stalltrakt benutzen. Meine Mutter hatte allerdings immer noch ein paar Freundinnen beim Hauspersonal, und als der Tee beendet war und die Leute durch den Park spazieren durften, führte sie mich unauffällig durch eine Seitentür ins Haus, und wir verbrachten ein bisschen Zeit bei der Köchin und den Küchenmädchen. Dieser kurze Besuch hat mich damals sehr beeindruckt. Die Küche lag im Untergeschoss, und man gelangte durch einen kühlen Gewölbegang dorthin, der mich an ein Burgverlies erinnerte. Eine ungewöhnlich große Zahl von Menschen eilte ohne Unterlass, beladen mit Körben und Tabletts, zur Küche hin und wieder zurück. Die Mädchen hatten einen derart großen Berg von Geschirr zu spülen, dass meine Mutter kurzerhand die Ärmel hochkrempelte und ihnen half. Als Belohnung für ihre Mühe durfte ich mich zu meiner großen Freude von den Geleespeisen und Puddings bedienen, die beim Fest übrig geblieben waren. Man setzte mich an einen Bohlentisch und gab mir einen Löffel aus dem Besteckvorrat der Familie – ein schweres Exemplar aus mattem Silber, dessen Laffe beinahe größer war als mein Mund.
    Doch dann folgte eine noch größere Belohnung. Hoch oben an der Wand des gewölbten Korridors befand sich ein Verteilerkasten, in dem verschiedene Drähte mit Glocken zusammenliefen, und als eine dieser Glocken zu bimmeln begann und das Stubenmädchen nach oben klingelte, nahm sie mich mit hinauf, so dass ich einen Blick hinter den grünen Vorhang werfen konnte, der das Vorderhaus vom Dienstbotentrakt trennte. Ich dürfe dort stehen bleiben und auf sie warten, sagte sie, wenn ich ganz brav und leise wäre. Ich sollte nur in jedem Fall hinter dem Vorhang bleiben, denn wenn der Colonel oder die gnädige Frau mich entdeckten, würde es gewaltigen Ärger geben.
    Für gewöhnlich war ich ein folgsames Kind. Doch gleich hinter dem Vorhang trafen zwei marmorgeflieste Korridore aufeinander, in denen sich die herrlichsten Dinge befanden, und als das Stubenmädchen erst einmal in die eine Richtung verschwunden war, machte ich ein paar wagemutige Schritte in die andere. Sofort wurde ich von einer unglaublichen Erregung ergriffen. Damit meine ich nicht nur den Nervenkitzel, etwas Verbotenes zu tun, sondern eine Erregung, die das Haus selbst hervorrief und die von jeder einzelnen Oberfläche auszugehen schien: vom blankpolierten Boden, von der Patina auf dem Holz der Stühle und Schränke, vom Schliff eines Spiegels oder der schneckenförmigen Verzierung eines Bilderrahmens. Ich fühlte mich magisch angezogen von einer der makellos weißen Wände, die ein Stuckfries zierte, ein Relief aus Eicheln und Blättern. Etwas Derartiges hatte ich bisher nur in der Kirche gesehen, und nachdem ich die Verzierung einen Moment betrachtet hatte, tat ich etwas aus heutiger Sicht ganz Unverzeihliches: Ich
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