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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand
Autoren: Amos Oz
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vor, schuld seien das Gewehr, die zu ermittelnden Umstände, das Plastikgeschoß – als sei diese ganze Unreinheit Schuld des Himmels, unausweichliche Vorbestimmung.
    Und eigentlich, dachte er weiter, wer weiß?
    Es liegt doch schon so ein geheimer Zauber in dem Ausdruck »Schuld des Himmels«?
    Zum Schluß wurde er auf sich selber wütend: nix Zauber und nix geheim. Laß endlich den Himmel in Ruhe.
    Fima hielt sich eine Gabel an Stirn, Schläfe, Hinterkopf und versuchte zu erraten oder zu empfinden, was sich in der Sekunde abspielen mochte, in der das Geschoß eindrang und die Schädeldecke durchschlug: kein Schmerz, keine Erschütterung – vielleicht, meinte er, vielleicht nur ein scharfes Aufblitzen von Ungläubigkeit, von Unvorbereitetsein, wie ein Kind, das sich darauf eingestellt hat, eine väterliche Ohrfeige einzustecken, während der Vater ihm statt dessen plötzlich einen weißglühenden Spieß gezielt in den Augapfel stößt. Gibt es den Bruchteil einer Sekunde, ein Zeitatom, in dem, wer weiß, vielleicht die Erleuchtung kommt? Das Licht der sieben Himmel? Wodurch alles, was vage und verschwommen im Leben war, einen winzigen Augenblick aufklart, bevor die Dunkelheit sich herabsenkt? All die Jahre lang sucht man eine komplizierte Lösung für ein vertracktes Rätsel, und da im letzten Moment blitzt eine einfache Lösung auf?
    An diesem Punkt sagte Fima sich mit wütend heiserer Stimme: Genug mit dem Gehirnterror. Die Worte »vage« und »verschwommen« erregten seinen Widerwillen. Er erhob sich, ging hinaus, schloß die Wohnungstür hinter sich ab und achtete besonders darauf, in welche Tasche er den Schlüssel steckte. Unten im Hausflur sah er in seinem Briefkasten einen weißen Umschlag durch die Löcher schimmern. Aber in der rechten Hosentasche war nur der Wohnungsschlüssel. Der Briefkastenschlüssel mußte wohl auf dem Schreibtisch liegengeblieben sein. Wenn nicht in der Tasche einer anderen Hose. Oder auf einer Ecke der Küchentheke. Er zögerte, ließ die Sache aber auf sich beruhen, da er annahm, daß es doch nur die Wasser- oder Telefonrechnung oder auch bloß Reklame war. Dann aß er Rührei mit Wurst, gemischten Salat und Kompott in dem kleinen Lokal gegenüber und erschrak mittendrin, weil er durchs Fenster in seiner Wohnung Licht brennen sah. Er überlegte kurz, erwog die unwahrscheinliche Möglichkeit, daß er persönlich sowohl hier als dort weilte, rang sich aber lieber zu der Annahme durch, die Störung sei wohl eben beseitigt und der Strom wieder eingeschaltet worden. Ein Blick auf die Zeiger seiner Uhr sagte ihm, wenn er jetzt in die Wohnung hinaufgehen, das Licht ausmachen, den Briefkastenschlüssel suchen und den Brief befreien wollte, würde er zu spät zur Arbeit kommen. Deshalb zahlte er und sagte: »Vielen Dank, Frau Schönberg.«
    Worauf sie ihn wie immer verbesserte: »Der Name ist Scheinmann, Dr. Nissan.«
    Und Fima fortfuhr: »Aber gewiß doch. Natürlich. Verzeihung. Und was schulde ich Ihnen? Nein? Ich hab’ schon bezahlt? Dann habe ich mich anscheinend nicht zufällig geirrt. Ich wollte zweimal zahlen, weil das Schnitzel – Schnitzel? – besonders gut geschmeckt hat. Verzeihung, danke und auf Wiedersehen. Ich muß mich beeilen. Schaun Sie bloß mal, wie’s regnet. Sie sehen ein bißchen müde aus? Traurig? Vielleicht wegen des Winters. Macht nichts. Es wird schon aufklaren. Seien Sie gegrüßt. Auf Wiedersehen. Bis morgen.«
    Als der Autobus zwanzig Minuten später an der Kongreßhalle hielt, dachte Fima, daß es eine ausgesuchte Dummheit gewesen war, heute ohne Schirm aus dem Haus zu gehen. Und der Wirtin zu versprechen, es werde schon aufklaren. Woher wollte er das wissen? Ein schmaler, blitzblanker Speer rötlichen Lichts brach plötzlich zwischen den Wolken durch und entzündete ein Fenster hoch oben in den Höhen des Hilton-Hotels, daß es ihm die Augen blendete. Trotz des Gleißens sah er jedoch ein einzelnes Handtuch an einem Balkongeländer im zehnten oder zwanzigsten Stockwerk des Hotelturms flattern und meinte, ganz scharf und genau den Parfümhauch der Frau, die sich damit abgetrocknet hatte, zu wittern. Dabei sagte er sich: Schau doch mal einer an, wie nichts auf der Welt wirklich vergeudet wird, nichts gänzlich verlorengeht und kaum eine Minute ohne ein kleines Wunder verstreicht. Vielleicht fügt sich alles zum Guten.
    Die Zweizimmerwohnung am Rand von Kiriat Jovel hatte ihm sein Vater 1961 anläßlich seiner zweiten Eheschließung gekauft, knapp ein
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