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Die Tochter des Teufels

Die Tochter des Teufels

Titel: Die Tochter des Teufels
Autoren: Heinz G. Konsalik
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1
    Am Ufer des Flusses Tobol entlang ritt an diesem Morgen eine junge Frau. Mit losen Zügeln ließ sie den Rappen galoppieren, der Ufersand wirbelte um sie herum, und sie lachte, ließ das lange blonde Haar im Wind wehen und sah über das breite, träge, in der milchigen Morgensonne wie Blei fließende Wasser.
    Ab und zu hielt sie das Pferd an, dann strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, richtete sich im Sattel auf und überblickte das weite, flache Land wie ein Feldherr.
    Der Fluß … die beiden Sandbänke, auf denen sich wilde Schwäne die Nacht aus dem Gefieder schüttelten … der Birkenwald zur Rechten, die kleine Zwiebelturmspitze der rosagestrichenen Kirche von Podunskoje zur Linken, dazwischen die Felder und Äcker, Buschgruppen und Weiden … und dann der Himmel, mit dem Land verschmelzend, als höre die Welt am Horizont auf … das war ein Anblick, dessen man nie müde wurde.
    Langsam ritt Helena Feodorowna Woronzowa weiter. Sie saß nicht wie eine vornehme Dame auf dem Pferd, in einem sittsamen Reitrock und in einem Damensattel, o nein, wie ein Kosak ritt sie daher, in hohen Stiefeln, im Herrensitz, über der schönen Brust eine Jacke aus rotem Filz und darunter eine Bluse aus chinesischer bestickter Seide. Und wie ein Kosak beugte sie sich auch über den Hals des Pferdes, schrie ihm etwas in die Ohren und jauchzte als der Gaul den Kopf emporwarf, wieherte und weitergaloppierte.
    Über dem Wasser schwebten Nebelschleier. Früh war in diesem Jahr die Schneeschmelze gewesen. Das Eis auf dem Tobol war nicht wie sonst unter donnerndem Krachen geborsten, Kanonenschüsse der Natur, die in den Herzen der Bauern wie Glockengeläut klangen, denn nun kam der Frühling auch nach Sibirien. Diesmal war es ganz merkwürdig am Fluß, das Eis setzte sich einfach in Bewegung, floß zum großen Bruder Ob, riß bei Tobolsk und Jelisarowo einige Holzbrücken weg und verschwand dann ganz in der warmen Frühjahrssonne.
    Helena Feodorowna ritt weiter am Ufer entlang. Ihr langes Haar war wie eine goldene Fahne.
    Später, in den vielen einsamen Tagen und Nächten, die diesem Frühlingsmorgen folgten, dachte sie oft darüber nach, wie es damals geschehen war. Erklärungen gab es nicht – es blieb immer ein Geheimnis.
    Das Pferd scheute plötzlich. Mit hocherhobenem Kopf stieg es vorn hoch, warf die Vorderbeine in die Luft, machte einen Satz, stolperte und knickte ein. »Was ist denn, Jascha?« schrie Helena Feodorowna noch, aber da sie mit lockeren Zügeln ritt, fand sie keinen Halt mehr. Sie versuchte noch, sich in der Mähne festzukrallen, aber es kam alles so plötzlich und ruckartig, daß sie weit durch die Luft flog und im Sand aufschlug.
    Sie erwachte, weil sie fror.
    Mit Schrecken sah sie, daß sie nackt am Ufer des Flusses lag, die Sonne glitt über ihren weißen Körper, und sie war naß, als habe man sie gewaschen. Unter ihr lagen ihre Kleider, die hohen Stiefel standen nahe am Wasser.
    »Gott segne dich, mein Täubchen«, sagte hinter ihr eine tiefe Stimme.
    Mit einem Schrei fuhr sie herum, riß, was am nächsten lag – es war ihre Reithose –, vor ihre Blöße und rollte sich zur Seite zu einem windzerzausten Busch.
    Auf einem Stein saß ein junger, wild aussehender Mensch. Lange dunkle Haare fielen ungekämmt über den mächtigen Schädel, ein langer, struppiger Bart hing bis auf die Brust. Ein schmutziges blaues Bauernhemd trug er, von einem selbstgeschnittenen Lederriemen zusammengehalten. Darunter sahen alte, geflickte Hosen hervor, die in hohen, derben, staubigen Bauernstiefeln endeten.
    Helena Feodorowna kroch zu dem Busch, die Kleider hinter sich herschleifend. Sie zuckte zusammen, als dröhnendes Lachen ihr folgte und der struppige Mensch sich auf die Schenkel schlug, als sehe er einen derben Spaß.
    Helena Feodorowna schlüpfte in die Reithosen und zog die Bluse über. Völlig durchnäßt war sie, und sie ahnte, daß der bärtige Mensch sie damit abgerieben hatte, um sie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken. »Warum hast du mich ausgezogen?« fragte sie, als sie hinter dem Busch wieder hervorkam. Der Bärtige musterte sie. In seinem Blick lag eine magische, anziehende Kraft, die Helena verwirrte. Sie wandte sich ab und sah über den Fluß, nur um diesen blauen, glänzenden Augen auszuweichen, die durch alles hindurchsahen, als bestände die Welt aus Glas.
    »Als du da im Sand lagst, du schönes Menschenkind, bleich und verkrümmt, da hatte ich Angst.« Der Bärtige erhob sich. Er war kein Riese, wie Helena
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