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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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    prolog
    Meistens bin ich unbekümmert. Das ist auch besser so. Ich radele am Tiergarten vorbei und pfeife ein Ständchen auf Berlin, das sich an manchen Tagen wirklich gut macht.
    Die Buchläden sind überfüllt mit jüdisch-deutscher Literatur. Historiker streiten, Gegner und Befürworter jeder These haben sich verausgabt. Volkshochschulen und Mahnmale erledigen den Rest. Ich brauche mich um nichts zu kümmern. Die Zeit wird die restlichen Wunden heilen.
    Doch dann mache ich an diesem sonnigen Tag einen Fehler, ich gehe in eine Ausstellung im Gropius-Bau, und da hängt ein Foto. Es zeigt eine Frau in einem verwaschenen Hemd. Ihr Kopf ist nicht zu sehen, aber auf der Brust lese ich eintätowiert: Feld-Hure NR . 712834.
    Mir wird schwindelig. Es ist stickig in dem Raum und dunkel. Ich warte auf den Stufen vor dem Museum, dass es mir besser geht, und weiß genau, dass überhaupt keine Zeit, nie, nie, nie die Wunden heilen wird. Meine Tante hat recht: Die Vergangenheit ist jetzt.
    Ich steige wieder aufs Fahrrad und trete in die Pedale.
    Ich bin 1 Meter 57 groß. Eigentlich nur 1,55, aber im Einwohnermeldeamt habe ich 1,57 angegeben. Ich freue mich riesig, den deutschen Staat um zwei Zentimeter betrogen zu haben.
    Also, ich bin nicht sonderlich groß, habe schöne, kräftige Waden, weil ich mit den Hacken auftrete beim Gehen, wie früher meine Mutter. Das Fahrradfahren tut das seinige dazu.
    Ich rede gerne. Höre gerne zu. Das ist eine runde Sache.
    Ich lebe in Berlin, im Westen, in Schöneberg, dort, wo nie etwas passiert.
    Ich wohnte in der Zossenerstraße 61 in Kreuzberg, als nach dem Mauerfall die Milch in der Markthalle ab 12:00 Uhr mittags ausverkauft war. Im Tiergarten führte ich meinen riesigen Hund (inzwischen tot) spazieren, als die damalige Kongresshalle, die »Schwangere Auster«, in sich zusammenbrach und daraufhin in »Haus der Kulturen der Welt« umbenannt wurde. Ich besuchte die Max-Reinhardt-Schauspielschule, die in »Hochschule der Künste« umbenannt wurde und heute »Universität der Künste« heißt. Ich lernte dort Schauspiel. Zum Abschluss erhielt ich den Titel »Dipl.-Schau.«. Man könnte mich Diplom-Schauspielerin nennen, aber wem würde das nützen?
    Ich trank Kaffee im »Schwarzen Café« oder im »Terzo Mondo«, feierte im »Zwiebelfisch« oder tanzte die Nacht durch im »Dschungel«. All das gehört zu einem längst versunkenen Westen. Überhaupt verschwand der Westen, vor allem dieses Westberlin, schneller als die ganze viel beklagte DDR . Beinahe über Nacht. Es hinterließ nur ein paar Details.
    Ja, so lange bin ich schon da.
    Ich habe eigentlich nur J. F. Kennedy verpasst und den Zweiten Weltkrieg.
    Ich bin Jüdin. Jahrgang 1960. So, jetzt ist es heraus.
    Ich wurde in Titos Jugoslawien geboren. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, es muss die Blütezeit seiner Herrschaft gewesen sein, denn sein Porträt hing groß und imposant überall. Auch in unserem Kindergarten. Dort sogar in Farbe. Vor dem Frühstück begrüßten wir Kinder ihn mit»Dobar dan Druže Tito« (»Guten Tag, Genosse Tito«). Er antwortete nie, wir fanden ihn unhöflich.
    Als ich drei Jahre alt war, wurde ich zu einem Casting eingeladen. Das Leben des Nikoletina Bursač, einer heldenhaften Partisanenfigur aus einer Erzählung von Branko Cópić, sollte verfilmt werden. In der Endauswahl schlugen sich eine kleine Blondine und ich um die Rolle der Erna. Der Held Nikoletina findet in den letzten Kriegstagen ein kleines jüdisches Mädchen in einem niedergebrannten Dorf. Das Mädchen wird zutraulich und erzählt ihm die Geschichte von der Verfolgung und Ermordung ihrer Familie durch die kroatischen Faschisten, die Ustascha. Das jüdische Mädchen sollte ich sein. Ich hatte mir vorgenommen, zu gewinnen und später Schauspielerin zu werden. Beides gelang mir.
    Die Dreharbeiten waren nicht sonderlich spektakulär, ich trug dicke Wollsocken, die kratzten, musste eklig schmeckende Ziegenmilch trinken und an ausgesuchten Stellen weinen.
    Weinen, wenn der Held Nikoletina mich findet, in einem Bergdorf, in dem die Ustascha alle Juden getötet haben, nur mich, die kleine Erna, haben sie nicht gefunden.
    Die Ustascha, erklärte man mir bei den Dreharbeiten, seien kroatische Nationalisten gewesen, angeführt von Ante Pavelić, die nach dem Vorbild der SS ihre Rassengesetze mit brutalem Terror durchgesetzt hätten. Sie wären eine radikale Minderheit geblieben, wenn sie nicht von Hitler und Mussolini in den Rang einer
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