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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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Vergleich.« Glücklich erklärt er mir die Abseitsfalle. Sofort verliere ich den Faden, mein Blick schweift ab und landet auf dem anderen, dem Kleineren, der in der Nase bohrt, als suche er nach Gold. Was soll’s, ich schalte den Computer wieder aus.

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    mein vater, der held
    Adriana! Adria, meine Tochter, du solltest wie unser Meer heißen! Unser schönes Meer!
    Wir haben gesungen! Gelacht! – Split! Das war eine Perle an der Adria. Die Dalmatier? Wie Italiener! Laut, fröhlich und vor allem keine Antisemiten. Man hat uns geholfen auszureisen, hat uns versteckt, und wir sind gemeinsam in die Berge. Als Kämpfer! Stell dir vor, die erste jüdische Buchhandlung des Landes gab es in Split: Familie Mopurgo … Schau! Es haben fast alle überlebt. Fast alle Juden aus Split! Bis die Deutschen kamen, aber das ist eine andere Geschichte …
    Nachts um halb zwei wache ich auf. Es ist der 7. Dezember, die Nacht nach Nikolaus. Ja, wir feiern Nikolaus. Juden nehmen alle Feiertage mit. Nicht alle Juden und nicht alle Feiertage, aber im Prinzip ist es so. Die Kinder haben sich sämtliche Süßigkeiten aus den Stiefeln in den Mund gestopft und sind mit Bauchschmerzen schlafen gegangen.
    Ist das Fenster auf? Es ist so stickig! Sammy hat morgen einen Termin beim Kieferorthopäden, wenn man den vergisst, muss man bis zu den dritten Zähnen warten. Warum bin ich überhaupt aufgewacht? Was ist los? Etwas passiert gerade … Etwas passiert immer gerade irgendwo …
    Wenn man jung ist, ist man zu dumm für die Angst. Ich war Arzt. Aber als Jude durfte ich im Krankenhaus nicht mehr arbeiten.Bei den Partisanen natürlich schon. Ärzte, auch so unerfahrene wie ich, bekamen sofort zu tun! Wie viele Zähne ich mit dem Brecheisen gezogen habe! Ich war mutig und dumm.
    Stell dir vor, im Juni 1943 bin ich los und habe das Lager auf Rab besucht! Ich wusste einiges von dem Lager, deine Mutter hatte mir geschrieben, wer alles drinhockte, was ihnen fehlte, wie es allen ging. Also habe ich mir eine Bescheinigung selbst ausgestellt, ich sei befugt, die Hygienebedingungen im Lager zu überprüfen. Wahnsinn! Bin rein und sogar wieder raus! Hatte Briefe dabei und Geld und kleine Sachen für all die armen Inhaftierten, die sie bei mir über deine Mutter bestellt hatten. Am Lagertor habe ich dem zuständigen Offizier gesagt, ich sei eine Art jüdischer Gesandter. Die italienische Besatzung hätte mir den Besuch des Lagers gestattet. Er war irgendwie beeindruckt und hat mich ohne weitere Fragen reingelassen! Aber was noch erstaunlicher ist, er hat mich auch wieder rausgelassen! Er hätte mich doch als Juden einfach dabehalten können? War er dumm oder einfach nur gutgläubig? Vielleicht war er ja nur Faschist, kein Antisemit? Ich weiß es nicht. Habe ihn auch nicht gefragt. Rein und wieder raus. Unglaublich! Hier, die Fotos vom Lager sind von mir! Habe ich im Schuh versteckt. Kaum war ich draußen, bin ich dann doch gerannt, ich Held! Gerannt um mein Leben. In einer kleinen Pension am Hafen habe ich die Rollos runtergelassen und auf das nächste Schiff nach Split gewartet! Wahnsinn! Wirklich dumm. Und noch so jung.
    Und ich habe Titos Brille repariert! Marschall Titos Brille! Aber das ist noch nicht alles! Ich habe gekämpft, im Wald geschlafen wie ein Bär, und ich habe 40 jüdische Kinder gerettet und nach Nonantola gebracht …
    Mein Vater war ein Held, das weiß ich, seit ich denken kann.
    Nonantola ist eine kleine Stadt in Norditalien, unweit von Modena. Im April 1943 kommen vierzig jüdische Kinder ausKroatien dort an. Sie sind, so wird erzählt, mit dem Schiff bis nach Ravenna gelangt, dann vorsichtig durch die Po-Ebene nach Nonantola marschiert. Es ist heiß, es gibt kaum Bäume in dieser Gegend, nur Reisplantagen. Aber auch die sind ausgetrocknet, seit Wochen hat es nicht geregnet. Die Kinder werden in der Villa Emma in Nonantola untergebracht. Die hat einem italienisch-jüdischen Großindustriellen gehört, bis er fliehen musste. Nun steht sie leer. Sie wirken ängstlich, diese Kinder, aber sie haben allesamt italienische Pässe. Mein Vater, der Held, hat sie ihnen besorgt.
    Der Carabiniere sitzt in Split in seinem Büro. Er liest den Corriere della sera, als ich reinkomme. Ich druckse herum. Er grinst. Ich möchte vierzig Stempel haben für vierzig jüdische Kinder, die in Sicherheit gebracht werden müssen. Das geht nicht, sagt der Carabiniere. Aber Dalmatien ist italienisch besetzte Zone, sage ich. Wir sind doch alle Italiener
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