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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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irgendwie, nicht wahr? Una faccia, una razza! – und schenke ihm einen Flakon Brillantine, Marke »Soffientini di Milano«, als Zeichen meiner Verehrung. Der Carabiniere lacht. »Birbante«, Schlingel, sagt er und stempelt mir ein »lasciapassare« für vierzig Personen. »Sollten Sie erwischt werden, wissen Sie nicht mehr, wer Ihnen die Pässe gestempelt hat«, ruft er mir nach. Die Eltern weinen am Hafen von Split, als sie ihre Kinder zum Schiff bringen. Aber sie wissen: Es ist ihre letzte Chance. Mit an Bord: italienische Faschisten, deutsche Militärs. Wir singen. Die Kinder und ich singen wie eine Jugendgruppe auf Ferienreise. Wir singen in einem fort. Als wenn nichts wäre. »Ciri biri bella mare moja!« Ein kroatisches Volkslied über unser schönes Meer. Die ganze Reise über haben wir gesungen. Wir haben über jeden Verdacht hinweggesungen!
    Mein Vater, der kleine Mann, ist nur wenig älter als die Kinder, zwanzig ist er. Auf dem Abschiedsfoto sehen sich alle ähnlich, dunkel und ernst, mit großen schwarzen Augen.
    Mein Vater verabschiedet sich von den Kindern. Nächstes Jahr in Jerusalem!
    Er muss in geheimer Mission weiter in den Vatikan. Dort stempelt einmal im Monat ein Priester den Juden ein »I« für »Italiener« in ihre Pässe. Ein solches »I« gilt als »lasciapassare«. Ein Schlupfloch. Da sich Kroatien unter italienischer Okkupation befindet, sind die Juden genau genommen Italiener. Dieses »I« rettet unzählige Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die nicht geflohen sind, warum auch immer.
    Zwei Jahre wird die kleine Gesellschaft in Nonantola bleiben. Als sich im September 1943 die Deutschen der Villa Emma nähern, nimmt die Landbevölkerung die Kinder auf und versteckt sie. Vielleicht, weil sie früher einen jüdischen Bürgermeister hatten und Samuel Friedmann immer so freundlich war? Nach dem Krieg und nach einer abenteuerlichen Flucht über die Schweiz landen die Kinder sicher und wohlauf in Haifa.
    Weißt du, was schade ist, Adriana? Ich habe mich nie bei dem Carabiniere bedanken können, denn ich wusste ja seinen Namen nicht. Dabei hat er vierzig Kinder gerettet …
    Mein Vater, der Held. Hoffentlich ist diese Geschichte wahr. Endlich schlafe ich ein.
    Georg, mein Mann, weckt mich, wie mir scheint, nur wenige Sekunden später. »Dein Vater ist tot.« Tot? Aber ist er nicht in Nonantola? Und der Carabiniere?
    Ich bin darauf vorbereitet und dennoch bin ich schockiert, atemlos, das ist wohl normal so.
    Ich bin froh, dass er es mir sagt und ich nicht selbst am Telefon war.
    Mitten in der Nacht steige ich ins Auto und fahre nach Gießen. Es ist eine merkwürdige Fahrt, die Reise zu einem Toten,zum toten Vater. Ich bin unnatürlich wach, unterhalte mich mit ihm. Und irgendwie antwortet er. Das ist tröstlich.
    Kennst du den Partisanenwitz mit dem Bären?
    Ein Mann hat einen Bären an der Leine. »30 Dinar für den Bären! 30 Dinar!«, schreit er auf dem Marktplatz.
    »Schön«, sagt ein Passant. »Aber wofür? Was kann der Bär? Kann er tanzen?«
    »Nein.«
    »Aha. Kann er auf einem Bein stehen?«
    »Nein!«
    »Was kann er dann?«
    »Nichts, aber er war im Wald!«
    Vor einem Jahr hatte mich mein Vater um ein Gespräch gebeten. Feierlich, als wären wir die Familie Buddenbrook, war ich zu ihm nach Gießen gefahren.
    »Ich habe dir etwas mitzuteilen.« Er war blass, wusste seit kurzer Zeit, dass er an Pankreaskrebs litt. Ausgerechnet Pankreas war sein Spezialgebiet, er hatte sich die Krankheit selbst diagnostiziert. Ich saß in seinem Arbeitszimmer in der Uniklinik, blätterte im Ärzteblatt.
    »Oh, so förmlich! Schieß los.«
    Er saß hinter seinem Schreibtisch und lächelte, besprühte sich mit seinem Lieblingsduft. Wir schwiegen, was selten vorkam. Und dann begann er ein Gespräch, ohne mir auch nur irgendetwas Wesentliches mitzuteilen, keine Heldentaten, nichts. Als müsste ich es durch den Nebel von Azzaro hindurch riechen, erraten. Dieses Spiel trieb er danach noch einige Male so oder ähnlich.
    Immer wieder rief er mich an, plauderte drauflos, erzählte mir Witze, die ich schon kannte, und bat mich schließlich, doch möglichst schon am nächsten Wochenende erneut vorbeizukommen. Nur ein einziges Mal rückte er wirklich mit der Sprache raus, sagte, seine Zeit sei abgelaufen, und dass 83doch ein stolzes Alter sei, nicht wahr? Er erklärte mir fachmännisch sein Blutbild, seine Aussichten. Pankreaskrebs war eben sein absolutes Spezialgebiet.
    Als er bereits zum wiederholten Male im
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