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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau
Autoren: Sandra Lüpkes
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1.
    Am schönsten sind sie, wenn sie keine Ahnung haben, wie schön sie sind. Wenn sie sich keine Gedanken darüber machen, wie sie aussehen.
    Diese schlanken, braunen Beine strumpflos in weißen Stoffschuhen treten in die Pedale, reiben weiter oben über den schwarzen Kunststoff ihres Fahrradsattels. So viel Energie in dieser Bewegung, wunderbar, so ein fließender Rhythmus, auf und ab, der nur dem unschuldigen Zweck dient, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Damit die Eltern sich nicht sorgen.
    Wie wunderschön.
    Sie trägt ihre Haare offen, halblang und glatt, eine unspektakuläre Farbe, wahrscheinlich verbieten die Eltern, dass sie sich knallige Strähnchen machen lässt. Man sieht ihr an, dass sie wohlbehütet ist. Nichts an ihr wirkt abgeklärt oder frühreif. Sie ist noch ein Kind. Zu süß, wie sie vorhin mit den Kätzchen gespielt hat. Ganz vertieft in den Anblick der tollpatschigen Fellknäuel. Weltversunken. Sicher hat sie dabei die Zeit vergessen. Mir ist es nicht anders ergangen.
    Auf einmal hält sie an. Breitbeinig steht sie über dem Rahmen ihres Sportrads – der gelbe Rocksaum liegt auf dem Metallicpink der Mittelstange – und dreht sich um. Sie sieht mich an, lächelt schief, dann greifen ihre schmalen Finger nach dem bunten Helm, der bislang nichtsnutzig in ihrem Fahrradkorb gelegen hat. Ich verstehe. Sie ist gleich zu Hause. Ihren Eltern zuliebe tut sie so, als habe sie die ganze Zeit den Kopfschutz getragen. Doch in Wirklichkeit ist ihr das Ding wahrscheinlich schrecklich peinlich. Alle anderen fahren ohne. Nur sie muss sich damit blamieren und sich das luftige Haar
platt drücken. Vielleicht ist sie doch nicht so unschuldig, denke ich.
    «Was gibt es da zu gucken?»
    «Ich bin von der Polizei. Zivilfahnder. Du weißt schon, dass das Tragen eines Helms Pflicht ist?»
    Ihr Gesicht färbt sich tief rot. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und blickt zu Boden. «Mein Vater sagt mir ständig, ich soll ihn aufsetzen. Aber   …»
    «…   der Helm ist uncool», vervollständige ich den Satz. Sie nickt.
    «Und wenn ich dich jetzt verhafte?»
    Sie traut sich nicht gleich. Erst drei Atemzüge später fragt sie: «Machen Sie Witze?»
    Ich weiß, ich sehe nicht gefährlich aus. Das ist mein Vorteil. Wie gut, dass man nicht in die Menschen reingucken kann. Würde sie sehen, was in mir wütet, wäre sie schon längst davongefahren, ohne Helm, das wäre ihr egal gewesen. Aber sie erkennt es nicht. Für ein Mädchen, das noch keine schlechten Erfahrungen gemacht hat, ist ein Lachen immer noch ein Lachen. Also lache ich. «Ja, du hast recht. Ich mache Witze.»
    Erleichtert setzt sie den Helm auf und will weiterfahren.
    Ich kann sie daran hindern, denn ich schlage meine Jacke zur Seite und zeige, was ich darunter versteckt mit mir herumtrage. «Schau doch mal!»
    Sie ist hingerissen von dem süßen Tier und kommt nah an mich heran. Ohne Katze hätte ich sie nie so weit gekriegt.
    «Du kannst das Kätzchen haben, wenn du willst. Ich schenke es dir.»
    «Ich darf das nicht. Mein Vater ist dagegen.»
    «Suchen wir einen Geheimplatz, wo du es verstecken kannst. Wo es niemand findet. Du kannst es dann jeden Tag besuchen, ohne dass jemand davon erfährt. Ich werde es bestimmt niemandem erzählen.»
    «Aber ich bekomme Asthma davon.»
    «Das redet dein Vater dir nur ein. Weil er dir alles verbieten will. Er ist streng mit dir, oder?»
    «Na ja, er meint es nur gut   …»
    «Aber er verdirbt dir jeden Spaß, stimmt’s?»
    Sie nickt.
    Wie schön sie ist. Ihr Gesicht wirkt ganz weich und glatt. Ich stelle mir ihre Adern darunter vor, ihre Muskeln, ihr Gewebe, ihre Knochen. Ich merke, dass es sich in mir ausbreitet. Es presst von innen gegen meine Haut. So schlimm war es noch nie. Es will raus. Es will endlich raus.
    Weiß sie denn nicht, dass man sich nicht mit fremden Männern unterhalten soll? Hat ihr das niemand gesagt?
    Ich fühle das Glas in meiner Jackentasche. Gleich werde ich es öffnen.

2.
    Cerato
(Bleiwurz oder Hornkraut)
    Botanischer Name: CERATOSTIGMA WILLMOTTIANA
    Die Blüte gegen mangelndes Vertrauen in die eigene Intuition
     
    Als habe sie es geahnt. Gestern Abend hatte Wencke Tydmers das erste Mal seit Menschengedenken ihren Schreibtisch richtig aufgeräumt, sodass kein einziger Schnipsel mehr herumlag. Sie hatte sich sogar von Meint Britzke eines dieser praktischen Staubtücher ausgeliehen, welches den Dreck der letzten Monate per statischer Aufladung von der
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