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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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KAPITEL 1
    Zwischen Afrika und Südamerika
Etwa 1779 bis 1791
    Die Sitte, Körbe auf dem Kopf zu tragen, verlieh ihnen eine aufrechte Haltung. So waren sie mit den Gedanken dem Himmel näher als den Füßen.
    Es war ein kleines Dorf, in dem jeder seinen Teil der Arbeit verrichtete und seinen Platz bei den Tänzen hatte. Die Dorfbewohner kannten den Unterschied zwischen einem heiligen Feuer und einem Familienfeuer, über dem Essen gekocht wurde. Sie konnten Heilpflanzen und Giftpflanzen mühelos auseinanderhalten. Sie hatten gelernt, mit Regenzeiten und Dürren zu leben. Und wenn sie sich zum Ausruhen hinlegten, konnten sie in den Wolken Hunderte von Gestalten erkennen.
    Imaoma war ein junger Jäger. Er war so geschickt, dass ihn das ganze Dorf für einen Auserwählten der Ahnen hielt. Atima war ein hübsches Mädchen, das sich darauf verstand, Federn zu färben und Leder zu nähen.
    Es war Jagdzeit.
    Als der Tag anbrach, lag ein Holzgeruch in der Luft. Der Dorfälteste betrachtete seine Umgebung mit einem heiteren Lächeln, als wüsste er, dass bald etwas Schönes geschehen würde.
    Am Morgen blickte Imaoma die junge Atima an. Er sah sie mit festem Blick an und lief weiter.
    Am Nachmittag blickte Imaoma Atima wieder an. Sie legte die Hände an die Wangen und setzte den rechten Fuß auf den linken.
    Als die Nacht hereinbrach und das ganze Dorf sich ums Feuer versammelte, blickte Imaoma Atima erneut an. Nun war alles gesagt! Wenn ein Mann eine Frau im Laufe des Tages dreimal ansah, galt das als Heiratsantrag, sofern die Familien mit der Verbindung einverstanden waren.
    Die Familien waren einverstanden, denn Imaoma und Atima gehörten zusammen wie die beiden Augen eines Gesichtes, wie die beiden Flanken eines Gebirges. Und sie würden gesunden Nachwuchs hervorbringen.
    Kurze Zeit später wurde die Hochzeit gefeiert. Es gab Fleisch und Obst für alle Leute aus dem Dorf. Und für einige Verwandte, die von weit her gekommen waren.
    Atima schenkte ihrem Bräutigam ein Lederarmband.
    Imaoma wiederum schenkte seiner Braut einen kleinen Spiegel mit einem Ebenholzrahmen, den er selbst mit Hingabe geschnitzt hatte.
    Sie bauten eine Hütte an der Stelle, die ihnen die Alten zugewiesen hatten. Und das Leben ging weiter zum Klang der Trommeln.
    Ta m …
    Tam, tam.
    Ta m …
    Tam, tam.
    Aber im darauffolgenden Jahr begannen die Trommeln Unheil anzukündigen. Anfangs nur ein Unglück, dann immer mehr.
    Alle Trommeln gaben verworrene Botschaften von sich, als wären sie sich nicht sicher, was ihre bösen Vorahnungen bedeuteten. Oder sie scheuten sich, die Menschen mit so schlechten Nachrichten zu erschrecken.
    Die Zeit verging wie gewohnt, weder schnell noch langsam. Ein weiteres Jahr verstrich. Die Trommeln klangen nach wie vor dumpf und traurig. Sie wussten, dass sich schreckliche Dinge anbahnten, und warnten davor.
    Als die Hochzeit von Imaoma und Atima drei Jahre zurücklag und einige Regenzeiten vergangen waren, wiederholten die Trommeln nur noch eine Botschaft:
    Bald kommt großes Leid über uns,
    bald wird uns das Herz zerrissen.
    Bald kommt großes Leid über uns,
    bald wird uns das Herz zerrissen.
    Atima hatte sich auf der Suche nach essbaren Früchten vom Dorf entfernt. Ihre kleine Tochter war bei ihr. Das Mädchen war fast drei Jahre alt. Es trug daher noch die Namen seiner Eltern. Mit zwölf Jahren würde es sich seinen zukünftigen Namen selbst wählen. Bis dahin hieß es Atima, wie seine Mutter, und Imaoma, wie sein Vater. Die Bewohner jener Dörfer maßen Namen viel Bedeutung bei und ließen sich daher Zeit, einen passenden zu finden.
    Atima, die Mutter, und Atima Imaoma, das Kind, sammelten Früchte und sangen dabei. Aber sie waren weder allein noch in Sicherhei t …
    Männer mit blasser Haut beobachteten die beiden aus dem Dickicht ganz in der Nähe, mit Augen, die wie Silbermünzen glänzten. Es waren Menschenjäger. Sie richteten ihre Netze her, leckten sich die Lippen und machten sich bereit.
    Lautlos schlichen sich die Jäger an.
    Atima Imaoma stellte ihrer Mutter singend Fragen. Und Atima antwortete ihr auf dieselbe Weise.
    Die Jäger hatten klare Befehle: Diesmal sollten es Kinder sein. Die waren auf dem Sklavenmarkt gefragt und brachten gutes Geld. Außerdem passten mehr von ihnen auf ein Schiff, und sie brauchten weniger Nahrung und machten weniger Schwierigkeiten.
    Atima reichte ihrem Töchterchen eine rote Frucht. Atima Imaoma biss genüsslich hinein. Der süße Saft tropfte heraus und verschmierte ihr den
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