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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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und hatte es bis zum Oberarzt der gesamten Poliklinik gebracht. Im Grunde ist es nur folgerichtig, dass er hier gestorben ist. Übrig geblieben von ihm ist eine Plastiktüte mit ein paar Sachen.Sie steht vor dem Zimmer auf dem Flur. Es ist Donnerstagmorgen, 11 Uhr.
    Ich rufe meine Mutter zu Hause an. Sie hat die ganze Nacht bis zu seinem Tod bei ihm verbracht. Sie spricht wie ein Roboter, mechanisch und ferngesteuert, sie wird mir keine große Hilfe sein.
    Im Kopf überschlage ich: Innerhalb von 24 Stunden zu beerdigen wäre jüdische Pflicht, aber mit Sabbatbeginn gleichzeitig jüdischerseits verboten. Sonntags für Christen nicht erlaubt. Montag, Montag könnte er beerdigt werden.
    Meine Schwester, die nur meine Halbschwester ist, Tochter aus der ersten Ehe meines Vaters, ist aus Zagreb angereist. Sie hatte gehofft, ihn noch lebend zu sehen. Nun ist er tot, und wir müssen warten. Vier lange Tage zusammen warten.
    Meine Halbschwester heißt Rosa und ist noch kleiner als ich. Dafür ist sie ziemlich pummelig. Dick sein ist Charakterschwäche, sagte mein Vater immer. Sein Verhältnis zu ihr war nie sonderlich gut, und solche vernichtenden Urteile halfen nicht, die Situation zu verbessern. Es heißt, mein Vater habe seine erste Frau nur auf den Druck der Kommunistischen Partei hin geheiratet. Immerhin hatte er sie geschwängert. Anstatt die Partei zu hassen, die ihn zu dieser Heirat gezwungen hatte, distanzierte er sich zunehmend von der Frau und ihrer beider Kind. Jahre später, als ich ihn fragte, ob das nicht auch eine Art Charakterschwäche gewesen sei, erwiderte er herablassend: »Adriana, du verstehst nichts vom Kommunismus.« Je älter meine Schwester wurde, desto komplizierter wurde auch seine Beziehung zu ihr wie auch die Beziehung meines Vaters zur Partei. Letztendlich war meine Halbschwester ja auch ein Kind der Partei.
    Seine erste Frau starb nach 14 Jahren Ehe, im selben Jahr kam ich auf die Welt, das Kind einer neuen Frau: meiner Mutter. Mein Vater übte sich im Spagat: Die Nächte verbrachte er in der Wohnung seiner verstorbenen Frau bei meiner Halbschwester, die Tage bei uns. Er war völlig vernarrt in seine »neue« Tochter, in mich, die ich mit meiner Mutter am anderen Ende Zagrebs lebte. Diese familiäre Akrobatik war für meine Schwester sicher kein Vergnügen. Wahrscheinlich hätte sie mich gern mit meiner Kuscheldecke erstickt.
    Mit dem Tod meines Vaters stehen wir nun vor einer neuen Prüfung unseres verwandtschaftlichen Verhältnisses.
    Meine Schwester setzt sich auf den Teppich in der Mitte des Arbeitszimmers. Im Grunde steht sie erst vier Tage später wieder auf.
    Das Arbeitszimmer liegt im 3. Stock der Universitätsklinik, Abteilung Radiologie. Ich habe meinen Vater immer gern dort besucht. Fläzte mich auf der Ledercouchgarnitur, probierte die Vierfarbstifte der diversen Pharmakonzerne aus, staunte über die radiologischen Aufnahmen von Dickdärmen. Ich bekam stets einen Espresso, genauso wie die Putzfrau oder der Dekan. Für diesen Espresso war mein Vater berühmt. Eine großartige italienische Espressomaschine war das Zentrum des Bücherbords. Auf nichts war mein Vater ähnlich stolz – doch, vielleicht auf sein Auto. Er hatte sich lange mit Renaults und Peugeots herumgeschlagen. Sofort nach seiner offiziellen Einbürgerung in die BRD gönnte er sich einen dicken Mercedes: Für alle war damit sichtbar, dass er wieder einmal angekommen war in einer Gesellschaft. Wenn er durch Gießen fuhr, ließ er den Hut auf, sonst lief er Gefahr, bei seiner geringen Größe nicht gesehen zu werden. Als ich das Abitur machte, bekam ich einen Zweitschlüssel für den Wagen, es war das größte Lob, das ich bekommen konnte: Auch ich war damit in der deutschen Gesellschaft angekommen, mit deutschem Abitur und deutschem Wagen. Noch am selben Abend fuhr ich die Beifahrertür ein. Für meinen Vater eine Bagatelle angesichts unseres unaufhaltsamen Aufstiegs in der deutschen Gesellschaft.
    Natürlich könnte ich mir Zeit lassen mit dem Ausräumen des Zimmers. Vonseiten des Klinikums gibt es keinen Termindruck. Ich könnte in die Luft starren, weinen oder sogar in meinem Mikrokroatisch mit meiner Schwester über unseren Vater reden. Oder gar über uns und unser kompliziertes Schwesternverhältnis. Aber mir Zeit lassen, vielleicht sogar nichts tun, ist nicht gerade meine Stärke.
    Stattdessen packe ich Kisten über Kisten, meine Schwester sitzt auf dem Teppichboden, raucht und lässt sich im Stundentakt Espresso
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