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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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Acht
    Marxisten propagieren gewaltsame politische Aktionen. Sie lehnen den vernünftigen Weg gemäßigter, schrittweiser Reformen ab und befürworten stattdessen das blutige Chaos der Revolution. Eine kleine Bande von Aufständischen empört sich, stürzt den Staat und zwingt der Mehrheit ihren Willen auf. Das ist einer von mehreren Gründen, warum Marxismus und Demokratie auf dem Kriegsfuß stehen. Da Marxisten Moral als bloße Ideologie abtun, sind sie von dem Unheil, das ihre Politik über die Bevölkerung bringt, nicht sonderlich betroffen . Der Zweck heiligt die Mittel, egal, wie viele Leben dafür geopfert werden.
    Der Gedanke an Revolution beschwört Bilder von Gewalt und Chaos herauf. Insofern lässt sich ein Gegensatz zur Sozialreform konstruieren, die wir uns eher friedlich, gemäßigt und schrittweise vorstellen. Doch dieser Gegensatz ist falsch. Viele Reformen sind alles andere als friedlich gewesen. Nehmen Sie die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, die keineswegs revolutionär, aber trotzdem geprägt war von Tod, gewalttätigen Übergriffen, Lynchjustiz und brutaler Unterdrückung. Während des 18 . und 19 . Jahrhunderts löste jeder Versuch liberaler Reformen in den unter kolonialer Herrschaft stehenden Teilen Lateinamerikas gewalttätige soziale Konflikte aus.
    Dagegen waren einige Revolutionen relativ friedlich. Revolutionen können gemäßigt oder gewaltsam sein. Der Dubliner Osteraufstand 1916 , der Irland die partielle Unabhängigkeit brachte, kostete nur wenigen Menschen das Leben. Überraschend wenig Blut wurde auch in der bolschewistischen Revolution von 1917 vergossen. Tatsächlich wurde bei der Übernahme der Schlüsselstellen Moskaus nicht ein einziger Schuss abgefeuert. Die Aufständischen konnten laut Isaac Deutscher »die Regierung ohne weitere Umstände zur Seite schieben« 124 , so überwältigend war die Unterstützung des einfachen Volks für die Aufständischen. Als das Sowjetsystem mehr als siebzig Jahre später fiel, brach dieser Riesenstaat mit seiner Geschichte erbitterter Konflikte zusammen, ohne dass viel mehr Blut floss als in den Tagen seiner Gründung.
    Zwar folgte der bolschewistischen Revolution ein blutiger Bürgerkrieg unmittelbar auf den Fersen, aber dazu kam es, weil die neue Gesellschaftsordnung von rechten Streitkräften und ausländischen Invasoren wütend angegriffen wurde. Britische und französische Kräfte unterstützten die konterrevolutionären weißen Truppen mit allen Mitteln.
    Für den Marxismus ist nicht entscheidend, wie gewaltsam eine Revolution ist. Oder wie umfassend die Umwälzung ist. Als Russland am Morgen nach der bolschewistischen Revolution erwachte, waren nicht alle Marktbeziehungen abgeschafft und die gesamte Industrie verstaatlicht. Ganz im Gegenteil, Märkte und Privateigentum blieben noch einige Zeit nach der bolschewistischen Machtergreifung erhalten und wurden von den neuen Herren nur ganz allmählich abgeschafft. Ganz ähnlich verfuhr der linke Flügel der Partei mit den Bauern. Von Zwangskollektivierung konnte keine Rede sein; vielmehr vollzog sich der Prozess allmählich und einvernehmlich.
    Gewöhnlich bereiten sich Revolutionen lange vor und brauchen Jahrhunderte, um ihre Ziele zu erreichen. Die europäischen Mittelklassen haben den Feudalismus nicht über Nacht abgeschafft. Die Machtergreifung ist eine kurzfristige Angelegenheit; dagegen dauert es erheblich länger, die Sitten, Institutionen und Einstellungen einer Gesellschaft zu verändern. Man kann eine Industrie per Regierungserlass verstaatlichen, doch ein Gesetzesakt allein kann Menschen nicht dazu bringen, anders zu fühlen und zu handeln als ihre Großeltern. Dazu bedarf es eines längeren Prozesses der Erziehung und kulturellen Veränderung.
    Wer bezweifelt, dass solche Veränderung möglich ist, braucht nicht weit zu suchen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Denn wir, als Staatsbürger des modernen Großbritanniens, sind selbst das Produkt einer langen Revolution, die sich im 17 . Jahrhundert zuspitzte; und das Hauptmerkmal des Erfolgs ist der Umstand, dass die meisten von uns sich dessen längst nicht mehr bewusst sind. Erfolgreiche Revolutionen löschen die eigenen Spuren vollständig aus. Dadurch erreichen sie, dass die Situation, die sie hervorzubringen beabsichtigen, ganz natürlich aussieht. Insofern ähnelt die Revolution ein wenig der Geburt. Wir können nur als »normale« Menschen leben, weil wir die Qualen und Schrecken unserer Geburt vergessen.
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