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Wildwasserpolka

Wildwasserpolka

Titel: Wildwasserpolka
Autoren: Michaela Kuepper
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1
    Und wie wir eben Menschen sind, wir schlafen sämtlich auf Vulkanen.
    Johann Wolfgang von Goethe

    Er sitzt in einem der beiden Loungesessel am Fenster, keine drei Schritte entfernt. Gespreizte Knie, aufgeknöpfter Hemdkragen, die Hände lässig auf den Armlehnen ruhend.
    »Du weißt ja«, sagt er in sanftem Ton, »wer nicht hören kann …« Gedankenverloren, beinahe zärtlich streicht er über die glatte Lederhaut, um ihr plötzlich einen Schlag zu versetzen. Sein Kinn ruckt nach oben. »Ich habe jetzt genug von unserem Dr. No – und vor allem von seinen beiden Freunden. Schalte sie aus, so schnell wie möglich.«
    Im selben Moment klatscht mir etwas in den Nacken. Eiskalt. Ich japse nach Luft, will mir an den Hals greifen, doch ich darf mich nicht bewegen: Unter mir gähnt der Abgrund, unmittelbar vor mir Waskovic.
    Nein, der gähnt nicht, sondern dreht den Kopf und blickt hellwach zum Fenster hinüber. Genau in meine Richtung. »War da was?«, fragt er.
    Der Dicke tritt vor und drückt seine Nase gegen die Scheibe. Ich kann mich nur aus seinem Blickfeld retten, indem ich mich an den eisernen Stäben des Balkongeländers nach unten rutschen lasse. Es tut höllisch weh, und jetzt hänge ich höchst unkomfortabel auf Bodenhöhe des Balkons, die Stäbe fest mit den Armen umschlossen, mit gut und gern sechs Metern Luft zwischen meinen Füßen und der Grasnarbe.
    Schräg über mir klebt der Dicke am Fenster: voluminöses Doppelkinn, kleine, huschende Äuglein, salatblattgroße Ohrmuscheln, von dunklem Stoppelhaar umrahmt. Eine Augenweide ist er wirklich nicht, und er sollte sich niemals – wirklich niemals – aus der Froschperspektive fotografieren lassen.
    Falls er nach unten schaut, ist es aus, denke ich, dann wird er mich entdecken.
    »Es taut wie verrückt«, höre ich ihn sagen. »Wahrscheinlich ist was vom Dach runtergekommen.«
    Sein Gesicht verschwindet wieder. Gerade rechtzeitig, denn mir splittern fast die Ellbogen, länger kann ich mich in dieser Position nicht halten. Mir bleibt nichts übrig, als mich vollends hängen zu lassen. Meine Arme werden lang wie Besenstiele, die Beine rudern wild in der Luft. Endlich finde ich irgendwo Halt, kann mich ein Stück hochziehen, mein Gewicht abstützen, Luft holen, mich für einen Augenblick sortieren.
    Ja, ich lebe noch. Es war nur ein fetter Tauwassertropfen, der mich getroffen hat. Nein, Waskovic hat mich nicht entdeckt, über mein Headset höre ich ihn drinnen munter weiterplaudern. Auch dem Dicken kann ich jetzt nicht mehr ins Auge stechen, die Reflexion der Tischleuchte verhindert den Blick nach draußen.
    Ja, ganz richtig, er hat soeben den Befehl erhalten, zwei Menschen zu töten. Und ich habe es gehört. Grund genug, mich subito aus dem Staub zu machen.
    Im Schutz der Dunkelheit ziehe ich mich am Geländer herauf und versuche, den Nachbarbalkon zu erreichen – aufgepasst! Auf keinen Fall möchte ich den beiden ins Blickfeld geraten. Ich höre, wie die Minibar geöffnet und wieder geschlossen wird, direkt darauf ein angenehmes Gurgeln, Flüssigkeit, die in ein Glas plätschert – nicht viel, es muss was Hartes sein. Der Dicke räuspert sich, bedankt sich artig.
    »Auf die Zukunft!«, sagt Waskovic, mit leicht ironischem Unterton, der dennoch erkennen lässt, dass er nicht wirklich etwas zu befürchten hat. Ich höre seinen Atem, Schluckgeräusche. Er muss ganz nah bei dem Mahagonisekretär stehen, unter dem sich der Papierkorb mit der Wanze befindet.
    »Sie wissen ja, dass Sie sich auf mich verlassen können«, schleimt der Dicke und räuspert sich erneut.
    »Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, mein lieber Ernst.« Dann Schweigen, sie widmen sich offenbar ihren Drinks.
    Als ich schon fast drüben bin, sagt Waskovic noch etwas, ohne große Betonung, fast nebenbei, aber so deutlich, als spräche er direkt in mein Ohr. Er sagt: »Pass mir ein bisschen auf Galina auf. Allmählich fängt sie an, mir lästig zu werden.«
    Und mit diesem schlichten Nachwort sollte das Theater erst richtig losgehen.

2
    Greife nicht in ein fallendes Messer.
    Börsenweisheit

    Die Geschichte hat allerdings ein Vorspiel, und das begann ungefähr drei Wochen zuvor, an jenem Tag, an dem mich die Kaulquappe zum ersten Mal aufsuchte.
    Ich saß gerade am Küchentisch und studierte Mr. Q’s Secrets, den englischsprachigen Bestellkatalog für modische Nachtsichtbrillen, Kugelschreiber mit eingebauten Miniaturkameras, Kunstblumengestecke mit integrierten Abhörgeräten und
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