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Wildwasserpolka

Wildwasserpolka

Titel: Wildwasserpolka
Autoren: Michaela Kuepper
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dahinter verbergen sich ein eiserner Wille und eine gehörige Portion Draufgängertum, wie ich jetzt erkenne. Sein herausragendster Wesenszug aber ist die Treue. Treue, die über den Tod hinausgeht. Und plötzlich habe ich eine Eingebung, so stark, dass ich die Augen aufreiße und mir der Mund offen stehen bleibt: Pavel kannte die ganze Geschichte bereits, auch wenn er das immer wieder geleugnet hat. Galina hatte ihm alles erzählt. Er wusste, was sie wusste – und was sie dachte, wie sie sich fühlte. Der Verfasser des Briefes war er . Er schrieb ihn, nachdem er von mir erfahren hatte, dass Galina tot war. Und er brachte ihn zur Polizei, nachdem bekannt geworden war, dass man sie gefunden hatte. Während ich in U-Haft saß.
    Dieser Brief ist eine Fälschung, und zugleich ist er es auch nicht, denke ich mit klopfendem Herzen. Er ist eine Art Geständnis, das Galina nicht mehr ablegen, eine Willenserklärung, die sie nicht mehr formulieren, eine Entschuldigung, die sie nicht mehr aussprechen konnte. Und ich weiß: Pavel hat es für sie getan, für seine beste Freundin. Und für mich. Doch er hat noch mehr getan. Ich denke an den ausgefüllten Fragebogen, den Galina mir damals zukommen ließ. An mein Lob für ihre schöne Handschrift. An ihren ersten Brief, den Pavel mir in Freudenberg übergab. »Du warst das«, flüstere ich. »Du hast für sie geschrieben, stimmt’s? Deshalb hat der Grafologe keine Abweichungen festgestellt.«
    Pavel blickt zu Boden. »Sie hat sich schwergetan mit dem Schreiben, vor allem auf Deutsch«, bekennt er schließlich. »Aber sie wusste das immer sehr gut zu verbergen, sogar vor ihrem Mann. Und sie hatte ja mich.«
    Ich denke lange über seine Wort nach, und er beobachtet mich verstohlen. Schließlich muss ich lächeln.
    »Kennst du eigentlich das Recklinghäuser Lehrinstitut für private Ermittlungen?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Die beste Detektivschule Europas«, erkläre ich und sehe sofort, dass ich seine Neugier geweckt habe. »Einen wie dich könnten sie gut brauchen.« Ich zwinkere ihm zu, und nun lächelt auch er. Ein Lächeln, das langsam über die Trauer siegt. Ein befreites, stolzes, wunderschönes Lächeln.

    »Es hat schon wieder eine angerufen«, ruft Markus, als ich nach Hause komme. Er hat den Telefondienst von seinem Arbeitszimmer aus übernommen, weil mein Büro noch nicht wiederhergestellt ist.
    »Was wollte sie?«, frage ich, während ich meinen Beerdigungsmantel auf einen Bügel hänge.
    »Sie sagt, ihr Mann wäre verschwunden.«
    Ich steige über matschverschmierte Kinderstiefel und betrete die Küche.
    »Hast du heute wieder einen umgenietet?«, begrüßt mich Yannick, der am Esstisch sitzt und malt, neuerdings flankiert von einem neongrünen, einäugigen Zyklopen, der das Rülpsmonster noch in den Schatten stellt.
    »Heute ausnahmsweise nicht.« Ich drücke meinem Sohn einen Kuss aufs Haar. Markus steht am Herd und kämpft mit einer Dose Ravioli.
    »War sie bei der Polizei?«, frage ich ihn.
    »Die nimmt an, er wäre mit seiner Freundin durchgebrannt. Aber daran glaubt die Frau nicht.«
    »Daran glauben sie nie«, sage ich und verschwinde in der Speisekammer, um die Packung Schokoladenkekse zu holen, die ich dort gestern verstaut habe.
    »Sie sagt, diese Freundin ihres Mannes käme täglich zu ihr, um sich zu erkundigen, ob er wieder aufgetaucht sei.«
    »Oh!« Keine Kekse mehr da.
    »Du wärst doch Spezialistin für verschwundene Menschen, meint sie. Man hätte so viel von dir in der Zeitung gelesen. Ob du den Fall übernehmen würdest?«
    Spezialistin! Spezialistin für Umweltsäue, Babyaffentöter, Gattinnenmörder vielleicht – und für Gangster mit Herz. Spezialistin für Kofferraum-, Teich- und Grubenbestattungen, denke ich. Nur gut, dass die Öffentlichkeit es ausschließlich meiner kriminalistischen Spürnase zuschreibt, der Polizei die entscheidenden Hinweise zum Verbleib von Thomas Müller und Galina Waskovic gegeben zu haben. »Wo sind die Kekse?«
    »Ich habe gesagt, du hättest keine Zeit, weil du gerade eine Fortbildungsreihe fürs BKA konzipierst«, antwortet Markus laut, während er in seinen Ravioli rührt.
    »Nein, das hast du nicht«, flüstere ich und beiße ihm ins Ohrläppchen.

    ›Spezialistin für verschwundene Menschen‹ – klingt doch gut. ›Spezialistin‹ klingt immer gut. Ich werde mir ein Büro in der Innenstadt anmieten, beschließe ich, direkt in der Holzgasse. Heißt es nicht, man soll Beruf und Privatleben trennen?

    E N D
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