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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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25. August 1956
    Wenn ich heute zurückdenke, würde ich nicht sagen, daß ich jemals wirklich »verklemmt« war (um eines von Proks Lieblingswörtern zu gebrauchen), aber ich gebe zu, daß ich, als ich ihn kennenlernte, ziemlich naiv war, ganz zu schweigen von hoffnungslos langweilig und konventionell. Ich weiß nicht, was er eigentlich in mir gesehen hat – oder vielleicht doch. Vergeben Sie mir einen Anflug von Eitelkeit: Meine Frau Iris behauptet, ich sei auf der Uni so was wie der Schwarm aller Mädchen gewesen, allerdings war ich der letzte, der davon wußte, denn ich verabredete mich nicht mit Mädchen und fühlte mich schon immer unwohl bei belanglosem Geplauder, das in beiläufige Erkundigungen nach Plänen für den Abend mündet, beziehungsweise danach, ob man am Samstag nach dem Spiel schon etwas vorhat oder nicht. Ich war damals ganz gut trainiert und hatte die Schultern eines Football-Verteidigers und einen Taillenumfang von fünfundsiebzig (auf der Highschool hatte ich in der ersten Mannschaft gespielt, allerdings mitten im zweiten Jahr eine Gehirnerschütterung erlitten, worauf meine Mutter dieser Karriere ein vorzeitiges Ende bereitete), und im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten hielt – und halte – ich mich gewissenhaft in Form, aber das gehört jetzt nicht zur Sache. Um das Porträt rasch abzurunden – denn ich habe es schon wieder geschafft, mich auf dünnes Eis zu manövrieren: Ich war mit etwas gesegnet, was Iris als »gefühlvolle« Augen bezeichnet, was immer das heißen mag, und hatte einen weizenblonden Haarschopf mit Naturlocken, die sich von keiner mir bekannten Haarcreme oder Pomade bändigen ließen. Was Sex betraf, so war ich begierig, aber unerfahren und auf die übliche Weise schüchtern – unsicher und etwa so ahnungslos, wie Sie es sich nur vorstellen können.
    Tatsächlich entwickelte ich zum ersten Mal ein mehr als rein theoretisches Verständnis vom Koitus – das heißt von der Mechanik des Aktes –, als ich im Herbst 1939, während meines letzten Studienjahrs an der University of Indiana, in einem mit sprach- und atemlosen Studenten und Studentinnen vollgepackten Hörsaal saß und Proks riesige, auf die Leinwand projizierte Dias sah. Ich war dort auf Anregung eines Mädchens namens Laura Feeney. Sie war eine der femmes fatales der Uni und schien nie irgendwohin zu gehen, ohne sich bei einem sportlich herausragenden Studenten untergehakt zu haben. Laura stand in dem Ruf, »schnell« zu sein, doch ich kann Ihnen versichern, daß ich nie in den Genuß ihrer sexuellen Freigebigkeit gekommen bin (sofern die Gerüchte überhaupt stimmten: Später stellte ich fest, daß die am heißesten wirkenden Frauen oft das am meisten unterdrückte Sexualleben haben und umgekehrt). Allerdings weiß ich noch, daß ich eindeutig geschmeichelt war, als sie mich eines Tages während der Einschreibung für das Herbstsemester auf dem Korridor anhielt, meinen Bizeps packte und mir einen Kuß auf die Wange drückte.
    »Oh, hallo, John«, hauchte sie. »Gerade hab ich an dich gedacht. Wie war der Sommer?«
Ich hatte den Sommer zu Hause in Michigan City verbracht. Ich hatte Regale aufgefüllt und Einkäufe in Papiertüten gepackt, und wenn mal fünf Minuten lang nichts zu tun war, hatte meine Mutter mich Bäume zurückschneiden, Dachziegel austauschen und im Gemüsegarten Unkraut jäten lassen. Ich war einsam gewesen, ich hatte mich zu Tränen gelangweilt und in meinem Dachzimmer, das mehr einer Einzelzelle in einem Gefängnis glich, zweimal täglich masturbiert. Mein einziger Trost waren Bücher. In diesem Sommer war ich in den Bann von John Donne und Andrew Marvell geraten, und als Vorbereitung auf ein Seminar in englischer Literatur hatte ich Sir Philip Sidneys Astrophel und Stella dreimal gelesen. Aber das alles – oder auch nur einen Teil davon – konnte ich Laura natürlich nicht erzählen. Sie hätte mich für einen Waschlappen gehalten. Der ich ja auch war. Also zuckte ich bloß die Schultern und sagte: »Ganz gut soweit.«
Stimmen hallten im Treppenhaus, dröhnten in den Ecken und drangen durch den Korridor bis zur Sporthalle, wo die Einschreibungstische aufgestellt waren. »Ja«, sagte Laura, und ihr Lächeln gefror für einen Augenblick, »ich weiß, was du meinst. Bei mir war’s nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wußtest du, daß mein Vater einen Lunchimbiß in Fort Wayne hat?«
Das wußte ich nicht. Ich schüttelte den Kopf und spürte, daß eine ganze Haarsträhne sich löste,
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