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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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Bill schließlich, »habt ihr in eurem Leben jemals so was gesehen?«
»Ich dachte, ich würde sterben«, sagte Sally. Sie warf mir einen Blick zu und studierte dann das Muster aus feuchten Ringen, das ihr Glas auf dem Tisch hinterlassen hatte. »Wenn meine Mutter ...« begann sie, sprach den Satz jedoch nicht zu Ende.
»Uuh«, stöhnte Laura, und es klang wie ein langgezogenes Blöken, »meine Mutter wäre durch die Decke gegangen.« Auch sie hatte sich eine Zigarette angezündet, die jetzt im Aschenbecher vor sich hin qualmte, das Weiß des Papiers rotgefärbt von der Berührung ihrer Lippen. Geistesabwesend griff Laura nach der Zigarette, zog daran und stieß den Rauch aus. »Weil bei uns, in meiner Familie, nie, wirklich nie darüber gesprochen wurde, woher die kleinen Jungs und Mädchen kommen.«
Sally legte verschwörerisch die Hand an den Mund. »Man nennt ihn ›Dr. Sex‹, wußtet ihr das?«
»Wer nennt ihn so?« Ich hatte das Gefühl, über dem Tisch zu schweben – die Halteseile waren gekappt, und alles dort unten wurde rasch kleiner. Das hier konnte einem zu Kopf steigen, es war schmutzig, es war ungezogen, es war, als wäre ich ein Kind, das gerade all die verbotenen Wörter lernte, die Dr. Kinsey vor einer Stunde so akzentuiert wie leidenschaftslos ausgesprochen hatte.
Sally zog die Augenbrauen bis zur Hutkrempe hoch. »Die Leute eben. An der Uni.«
»Ganz zu schweigen von denen in der Stadt«, warf Bill ein. Er senkte die Stimme. »Er macht Interviews mit Leuten. Über ihr Sexualleben, beziehungsweise« – er lachte – »den Mangel daran.«
»Ich würde das auf keinen Fall machen«, sagte Sally. »Das ist so ... intim. Und dabei ist er ja nicht mal Arzt. Oder auch nur Pfarrer.«
Mit einem Mal wurde mir ganz heiß, obgleich es in der Kneipe fast so kühl und feucht war wie draußen. »Geschichten«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Fallgeschichten. Das hat er doch erklärt. Wie sollten wir sonst rausfinden, was die Leute –«
»Die Angehörigen unserer Spezies, meinst du«, sagte Laura.
»– was die Leute tun, wenn sie ... wenn sie sich paaren. Das geht nur auf wissenschaftlichem Weg. Und ehrlich gesagt... Ich weiß ja nicht, wie ihr darüber denkt, aber ich finde das, was Kinsey macht, sehr gut, und wenn es schockierend ist, sollten wir uns fragen, warum es schockierend ist, denn eine ... eine ... eine Funktion, die so universell ist wie das Paarungsverhalten, ist doch ein ebenso logischer For- schungsgegenstand wie der Blutkreislauf oder die Funktionsweise der Augenhornhaut oder all das andere medizinische Fachwissen, das wir im Lauf der Jahrhunderte angesammelt haben.« Vielleicht lag es am Bourbon, jedenfalls verteidigte ich Prok, bevor ich ihn überhaupt kannte.
»Ja, aber«, sagte Bill, und wir alle beugten uns über den Tisch und redeten, bis unsere Gläser leer waren, und dann ließen wir sie wieder füllen und leerten sie aufs neue. Die Regentropfen zogen Bahnen in den Schmutz auf den Fensterscheiben, draußen wurde es dunkel, und aus der Flut der Studenten wurde eine Ebbe. Man ging nach Hause zu Essen und Büchern. Es war sieben. Ich hatte kein Geld mehr. In meinem Kopf pochte es, aber ich war noch nie so aufgeregt gewesen. Als Bill und Sally sich verabschiedeten und mit hochgezogenen Schultern hinaus in die feucht wabernde Abendluft traten, blieb ich noch und legte Laura halb betrunken einen Arm um die Schultern. »Aber wir sind immer noch verlobt, oder?« murmelte ich.
Ihr Lächeln breitete sich von ihren Lippen langsam bis zu den Augen aus. Sie fischte die Maraschinokirsche aus ihrem Glas und drehte sie zwischen den Fingern, bevor sie sie mir langsam in den Mund steckte. »Klar«, sagte sie.
»Sollten wir uns dann nicht... Ich meine, müssen wir uns nicht ...«
»Klar«, sagte sie abermals, beugte sich vor und gab mir einen Kuß, den der Kirschsirup, der Duft ihres Parfüms und die Nähe ihres jetzt warmen, entspannten Körpers nur um so süßer machten. Es war ein langer Kuß, der längste, den ich je erlebt hatte, und er gewann eine tiefere, kompliziertere Dimension durch das, was wir auf der Leinwand im Hörsaal gesehen hatten, durch die erinnerten Bilder jener korrespondierenden Organe, die der Lust und der Arterhaltung dienten, die einander ergänzten und die erforderlichen Gleitmittel selbst produzierten, die zueinander gehörten und vollkommen natürlich waren. Ermuntert, ermutigt schnappte ich nach Luft, und obgleich zwischen uns, wie wir beide wußten, nichts war,
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