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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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obgleich ich beinahe eine halbe Flasche Cremeöl hineingeschmiert hatte. Ich trug eins der steifen neuen Arrow-Hemden, die meine Großmutter mir aus Chicago geschickt hatte, dazu eine Glencheck-Krawatte, die ich in diesem Jahr, glaube ich, täglich umband, in der Hoffnung, einen guten Eindruck zu machen; in der einen Hand hatte ich meine Aktentasche, in der anderen einen Stapel Bücher aus der Bücherei. Wie schon gesagt: Für Konversation fehlte mir jede Begabung. Ich murmelte etwas wie: »Fort Wayne, hm?«
Es spielte jedoch keine Rolle, was ich sagte, denn sie riß ihre türkisgrünen Augen auf (sie hatte rotes oder vielmehr rotblondes Haar und eine Haut, so weiß, daß man hätte glauben können, sie habe nie das Licht der Sonne gesehen), drückte meinen Bizeps und senkte die Stimme. »Hör mal«, sagte sie, »ich wollte dich fragen, ob du dich vielleicht mit mir verloben möchtest ...«
Ihre Worte hingen zwischen uns und schlössen alles andere aus – das Geschnatter des Pulks von Erstsemestern, der unvermittelt aus der Herrentoilette kam, das Hupen eines Wagens auf der Straße –, und ich kann nur vermuten, mit was für einem Blick ich sie angesehen habe. Das war lange bevor Prok mich lehrte, meine Gefühle hinter der Maske des Unbeteiligten zu verstecken, und wie immer jagten meine sämtlichen Gedanken zusammen mit dem Blut in mein Gesicht und ließen sich als Barometer der Verwirrung in meinen Wangen nieder.
»John, du wirst doch nicht rot, oder?«
»Nein«, sagte ich, »gar nicht. Ich hab nur ...«
Sie sah mir direkt in die Augen und genoß diesen Moment. »Du hast nur was?«
Ich zuckte die Schultern. »Wir waren in der Sonne – das war gestern, gestern nachmittag. Wir haben Möbel geschleppt. Und da hab ich wohl ...«
Jemand streifte mich im Vorbeigehen, ein jüngerer Student, der mir entfernt bekannt vorkam – war er letztes Jahr mit mir in Psychologie gewesen? –, und dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Ich meine, nur für dieses Semester. Und nur zum Schein.« Sie wandte den Kopf, und ihr Haar wogte. Dann sah sie mich wieder an, hob das Gesicht, bis es wie ein Satellit meines eigenen war, im Widerschein des Lichts leuchtend, das durch die Fenster am Ende des Korridors fiel. »Du weißt schon«, sagte sie, »für den Ehekurs.«
Das war der Augenblick, in dem alles begann, auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt war – wie denn auch. Wie hätte ich ahnen können, daß eine seichte, leicht zu beeinflussende Frau, die ich kaum kannte, die treibende Kraft sein würde, daß sie mich zu Prok und Mac, Corcoran und Rutledge bringen würde, zu dem Tisch, an dem ich jetzt sitze und versuche, soviel wie möglich von dieser Geschichte zu Papier zu bringen, bevor die Welt in Stücke fällt. Ich sagte: »Ja.« Ich sagte: »Ja, gut«, und Laura Feeney lächelte. Und bevor es mir klarwurde, war ich im Begriff, ein Adept der Sexualwissenschaft zu werden, das Ideal zugunsten des Nachweisbaren aufzugeben, Stellas Traum (»‘s ist wahr, daß wahre Schönheit wahre Tugend weist«) zugunsten von Anatomie, Physiologie und einer intimen Vertrautheit mit Bartholin-Drüsen und kleinen Schamlippen. All das – all die Jahre der Forschung, die Tausende von Kilometern, all die notierten Geschichten, das Suchen und Graben und Bahnbrechen – spulte sich wie ein unendlicher Faden von einer Garnrolle ab, die Laura Feeney an einem im übrigen ganz gewöhnlichen Herbsttag des Jahres 1939 in ihrer lilienweißen Hand hielt.
Aber ich will das nicht zu hoch hängen – schließlich erlebt jeder Mensch Augenblicke, in denen Weichen gestellt werden. Und ich will Sie auch nicht allzu lange im Ungewissen lassen. Der »Ehekurs«, von dem Laura gesprochen hatte – eigentlich eine Vorlesung mit dem Titel »Ehe und Familie« –, wurde von Professor Kinsey von der zoologischen Fakultät sowie einem halben Dutzend seiner Kollegen aus anderen Fakultäten angeboten und war die Sensation. Es waren nur Professoren und Dozenten, verheiratete oder verlobte Studenten sowie Doktoranden beiderlei Geschlechts zugelassen. Insgesamt würden elf Sitzungen stattfinden, von denen fünf den soziologischen, psychologischen, ökonomischen, juristischen und religiösen Aspekten der Ehe gewidmet waren und von Dozenten der jeweiligen Fakultäten abgehalten wurden, und die dort vermittelten Informationen waren gewiß nützlich und nötig, aber in Wirklichkeit nichts weiter als Dekoration für die sechs unverblümten Vorträge (unter Verwendung
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