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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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|5| Der Aufbruch
    Das Weinglas fiel klirrend zu Boden und zersplitterte in tausend Teile. Sie war hellgrün und recht agil gewesen, musste sich unbemerkt herangeschlichen haben, war mit einem Satz auf den Tisch gesprungen, hatte sich blitzschnell gedreht und dabei den gläsernen Stiel erwischt. Seine Frau nahm es mit Humor: »Ich wusste gar nicht, dass es hier derartig große Eidechsen gibt. Die sind doch sonst eigentlich recht bodentreu und machen nicht so große Sprünge, nicht wahr?«
    Sie war davongelaufen in die Nacht, und er blickte immer noch in die Richtung, in die sie verschwunden war.
    »So, dann wollen wir mal die Haushaltslage klären.« Eine Antwort auf ihre Frage zur Bodentreue der Eidechsen hatte sie wohl nicht erwartet. Sie stand auf, tupfte mit einer Serviette ihre nun nicht mehr ganz weiße Baumwollhose ab und holte einen Besen aus der Küche, mit dem sie die im Terrassenlicht funkelnden Glasstückchen in eine Ecke zusammenfegte. Es war eine einzige Fünkchenansammlung, die reinste Milchstraße.
    »So, das hätten wir.«
    Er hasste es, dieses herunterkühlende Element an ihr, das sich wohl aus der Erkenntnis speiste, dass man sich im Leben nicht unnötig aufzuregen habe, noch nicht einmal über randalierende Reptilien. Wo er sie doch mochte, die |6| Reptilien. Sie waren es wert, dass man sich über sie aufregte, fand er.
    Es war kurz vor Mitternacht und noch erstaunlich mild auf der dem Innenhof zugewandten Seite des Ferienhauses, wo sich die Terrasse befand. Ohne Ausblick zwar, ohne vorbeiflanierende Menschen, ohne Meeresrauschen, keine Chance auf Ablenkung. Dafür aber Ruhe, eine Verheißung von Ungestörtsein, und das allein war völlig ausreichend. Keine einzige Mücke, auch das bemerkenswert. Ja, besonders über Letzteres konnte er sich richtig freuen, denn die An- oder Abwesenheit von Mücken konnte man nicht planen. Sie waren alle gleich schlimm, von den Ostsee-Bodden über die Kanarischen Inseln bis zur Taiga – mit der einzigen, halbwegs nachvollziehbaren Daseinsberechtigung, menschlicher Eitelkeit durch rötliche, beulenartige Hautveränderungen an den unmöglichsten Stellen Einhalt zu gebieten.
    Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und betrachtete sie: Sie saß mit leicht hochgezogenen Schultern an dem schweren, ausgebleichten Holztisch, die Unterarme darauf abgelegt, die Finger ineinander verkreuzt und rund um die Augen ein wenig angestrengt. Das Amt saß ihr noch in allen Knochen. Er hatte versucht, sie ein wenig abzulenken, was ihm nur bedingt gelungen war. Noch auf dem Hinflug hatte sie ihn gefragt, wie viel Zahlenaffinität man wohl vom Volke erwarten könne angesichts der letzten Sparpläne. Ihm war Angst und Bange geworden – nicht wegen der Sparpläne, die ihn ja genauso betrafen, sondern wegen der bloßen Vorstellung, dass er durch eine allzu leichtfertige Antwort auf ihre Frage fatal Einfluss auf die Politik des Landes nehmen könne, und zwar mehr, als ihm lieb war. Er hatte geantwortet: »Zahlenaffinität? Och, ich für meinen Teil mag die Vier, nette Zahl, oder? Und du?« |7| Sie hatte gelacht, und das, so nahm er an, konnte der Lage der Nation nicht geschadet haben.
    Allerdings wusste er immer noch nicht, was vor ungefähr vier Wochen wirklich in ihrem Kopf vorgegangen war. Sie hatte die Sache mit sich selbst ausgemacht. Sicher, hinter jeder erfolgreichen Frau stand ein überraschter Mann. Und es gab »Krise«. Sie befand sich gerade in der schwersten, seit sie im Amt war. Das hatte er in der Zeitung gelesen. Aber musste gleich so etwas dabei herauskommen wie das, was sie jetzt allen Ernstes vorhatte? Es war noch nicht einmal Gelegenheit gewesen, sich näher darüber auszutauschen. Sie war immer so schnell wieder weg, husch, und manchmal kam er sich, angesichts der Distanzen, die sie regelmäßig zurücklegte, vergleichsweise unbeweglich vor. Vielleicht würde eine längere gemeinsame Zugfahrt etwas mehr Aufschluss über all das bringen. Ein Windstoß ging knatternd durch die Kanarenpalme im Innenhof.
    Richtig wohl war ihm bei diesem ganzen Vorhaben nicht. Sein Gesamtinnenwiderstand war schon vorher nicht unerheblich gewesen, und die Sache war riskant, sehr riskant, allein logistisch ein fast unmögliches Unterfangen. Am liebsten wäre er wieder zehn Tage genau da geblieben, wo sie jetzt waren. Selbst Kolumbus hatte sich auf der Durchreise länger hier aufgehalten, als sie es tun würden. Am Ende beruhigte er sich ein wenig damit, dass Männer im Urlaub
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