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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Einleitung
    Als Günter Grass im Jahr 2002 sein Werk Im Krebsgang veröffentlichte, brach er ein Tabu: In seiner Novelle schilderte Grass den Untergang des Kraft-durch-Freude-Passagierschiffes Wilhelm Gustloff und richtete den Blick erstmals explizit auf das Leid der deutschen Bevölkerung während des Krieges. Damit schnitt der Literat ein Thema an, das bis dahin in der Öffentlichkeit kaum diskutiert worden war. Grass, 1927 in Danzig geboren und selbst in Kriegszeiten aufgewachsen, hatte dies stets verurteilt: „Niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen“, ließ er in seiner Novelle den Erzähler reflektieren. Mit dieser Einstellung traf der Schriftsteller offensichtlich einen Nerv: Innerhalb weniger Wochen waren 300.000 Exemplare von Im Krebsgang verkauft.
    Seitdem sind viele Autoren seinem Beispiel gefolgt und haben die Erlebnisse der Deutschen während Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg in Sachbüchern, Artikeln und Fernsehsendungen geschildert. Inzwischen ist das Thema sogar spielfilmtauglich: TV-Produktionen wie Die Flucht und Die Gustloff belegen dies. Auch der israelische Psychologieprofessor Dan Bar-On sieht die aktuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegs- und Fluchterfahrungen als wichtigen Schritt im Heilungsprozess der deutschen Gesellschaft: „Die eigenen Verluste aufzuarbeiten und zu trauern ist enorm wichtig“, erklärt er mir in einem Interview. „Nachdem dies in Deutschland geschehen ist, wird vielleicht wieder die Energie da sein, um einen genaueren Blick auf die Involvierung deutscher Familien in den Holocaust zu wagen.“Erst durch diese Auseinandersetzung schien es möglich, auch das Leid der deutschen Kriegskinder ins Blickfeld zu nehmen. Geboren zwischen 1927 und 1947, wuchsen die Kriegskinder in einer Zeit auf, die eine Vielzahl potenziell traumatisierender Erfahrungen für sie bereithielt: Gerade in den letzten Jahren des Krieges bestimmten Bombenangriffe, Flucht, Vertreibung und Hungersnot den Alltag der Kinder. Vor allem in emotionaler Hinsicht kamen viele Kriegskinder zu kurz: Angesichts der harten Zeiten blieben ihre kindlichen Bindungs- und Geborgenheitsbedürfnisse oft nur unzureichend beantwortet. Und auch in den ersten Nachkriegsjahren ging es in vielen Familien vorrangig darum, irgendwie zu überleben. Heute sind die Kriegskinder 60 bis 80 Jahre alt und leiden an den Folgeerscheinungen ihrer Kindheitserfahrungen. Sie klagen über Flashbacks (ein blitzartig wiederkehrendes Erleben früherer Gefühlszustände), Ängste, psychosomatische Beschwerden, Depressionen und Beziehungsschwierigkeiten. Psychologischen Studien zufolge leiden 30 Prozent von ihnen an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Viele haben ihre Erfahrungen nie aufarbeiten können – erst jetzt füllen sich die psychologischen Praxen mit Kriegskindern, die Hilfe suchen und ihre Erlebnisse mitteilen wollen. Forschungsprojekte über die Langzeitwirkungen kindlicher Kriegserfahrungen sollen nun Aufschluss darüber geben, wie genau sich die kindlichen Kriegserfahrungen auf die Biographien der Betroffenen ausgewirkt haben.

    Doch was haben die Kinder der Kriegskinder mit den Erfahrungen der Eltern zu tun?
    In der Forschung ist längst bekannt, dass traumatische oder belastende Erfahrungen, wenn sie nicht aufgearbeitet wurden, auf die nächste Generation übertragen werden können – man nennt diesen Prozess „transgenerationale Weitergabe“. Bereits 1913 beschrieb Sigmund Freud in Totem und Tabu dieses Phänomen: „Wir dürfen annehmen, dass keine Generation imstandeist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen.“
    In den 1970ern und 1980ern stellten Holocaust-Forscher fest, dass auch die Kinder der KZ-Überlebenden an seelischen Problemen litten, die unmittelbar mit den traumatischen – dabei aber oft verschwiegenen – Erfahrungen der Eltern zusammenhingen. Ähnliche Modelle der transgenerationalen Weitergabe erkannten Psychologen später bei den Kindern der Vietnam-Krieg-Veteranen und den Kindern von Kriegsflüchtlingen, zum Beispiel aus dem Kosovo. Es liegt nahe zu vermuten, dass auch die deutschen Kriegskinder ihre Traumata mitunter unbewusst an ihre Kinder weitergegeben haben. Denn auch die Kriegskinder konnten ihre Erfahrungen meist nicht aufarbeiten – die schwierigen Nachkriegsjahre, Schuld- und
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