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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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lief zur Wand. Starrte den Umgebungsplan an.
    »Emil«, sagte er. »Komm her. Zeig mir, wo genau du Ida gefunden hast.«
    Emil blieb sitzen und schaute auf die Karte. Er verzog ängstlich das Gesicht.
    »Ich helfe dir«, sagte Sejer ermutigend. »Schau her. Hier sitzen wir jetzt. Mitten in der Stadt. Das Gelbe ist die Stadt«, erklärte er, »und das breite blaue Band ist der Fluß. Hier draußen wohnst du. Dieser Strich ist deine Straße, der Brennerivei. Dein Haus liegt ungefähr«, er beugte sich zur Karte vor und zeigte darauf, »hier!« sagte er energisch. »Und wenn du in die Stadt willst, dann fährst du so.«
    Er bewegte den Zeigefinger, um Emil den Weg zu zeigen.
    »Und Ida«, sagte er dann und suchte wieder auf der Karte, »sie kam von hier. Ihr Haus liegt in Glassverket, und sie ist diese Straße entlanggefahren. Diesen schwarzen Strich. Den ganzen Weg durch Holthesletta. Sie wollte zu Lailas Kiosk. Hast du das verstanden?«
    Emil schaute beschämt die Tischplatte an. Er hob das weiße Huhn hoch und preßte es so fest zusammen, daß die Figur schweißnaß wurde. Er erkannte seine Landschaft in dieser bleichen, zweidimensionalen Version nicht wieder.
    »Ida wurde von einem Auto angefahren, nicht wahr? Hast du gesehen, wie das passiert ist?«
    Emil nickte.
    Sejer war so aufgeregt, daß er sich energisch zusammenreißen mußte. »Ich habe kein Auto mitgebracht. Das war dumm von mir. Hast du das Auto gesehen? Ist es dir begegnet?«
    Noch ein Nicken.
    Sejer ging zum Tisch zurück. »Aber ihr Fahrrad«, sagte er nachdenklich und schaute zu Emil hinüber. »Das gelbe Fahrrad. Das war unversehrt, als wir es gefunden haben. Sie saß also nicht auf dem Rad, als das Auto sie angefahren hat.«
    Emil musterte die vielen Plastikteile. Er entschied sich für die Topfblume aus dem Wohnzimmer und stellte sie neben Ida.
    »Sie war vom Rad gestiegen, um Blumen zu pflükken?« fragte Sejer.
    Wieder nickte Emil.
    Sie ist noch einige Schritte gelaufen, dachte Sejer. Dann ist sie umgefallen. Und du hast es gesehen. Du konntest nicht einfach weiterfahren, als ob nichts passiert sei. Also hast du sie aufgehoben und auf deinen Anhänger gelegt, zusammen mit dem gelben Fahrrad. Aber du sprichst nicht. Und du wußtest nicht, wo sie wohnt. Plötzlich hast du auf deinem Moped gesessen, und auf deinem Anhänger lag ein kleines Mädchen. Und da war es das Beste, mit ihr zu deinem eigenen Haus zu fahren. Zu deinem Bett.
    »Hat sie noch gelebt, als du sie ins Bett gelegt hast?«
    Wieder bildete Emil mit zwei Fingern eine Pinzette. Die wies eine winzigkleine Öffnung auf.
    »Sie hat noch ein wenig gelebt? Und dann ist sie vor deinen Augen gestorben, Emil?«
    Emil nickte traurig.
    »Was hast du gemacht?«
    Emil nahm das rote Motorrad und fuhr weg.
    »Und danach, als du wieder zu Hause warst, hat deine Mutter angerufen«, sagte Sejer. »Aber sie hat alles falsch verstanden.«
    Er stand auf und ging auf Emils Tischseite hinüber. Jetzt brauchte er nur noch eines, eine einzige Antwort, dann war er am Ziel. Fast wagte er nicht, den Mund aufzumachen.
    »Das Auto, Emil. Was war das für ein Auto? Kannst du dich vielleicht an die Farbe erinnern?«
    Emil nickte eifrig. Er suchte zwischen den Figuren. Endlich entschied er sich für die Ida-Figur in dem gelben Kleid. Gelb, dachte Sejer. Das ist immerhin ein Anfang. Aber Emil nahm ihr die Haare ab. Die rutschten jetzt über die Tischplatte. Ein schwarzer, glänzender Panzer.
     
    Der Vernehmungsraum sah aus wie ein normales Büro mit hellen, anonymen Möbeln. Es war weder gemütlich noch abschreckend. Aber als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, kamen die Wände Tomme vor wie ein Netz. Es zog sich langsam um ihn zusammen. Er wartete seit vielen Stunden. Vielleicht sollte er einfach aufhören, zu reden? Würde er das schaffen? Aber wenn er schwieg, könnte er auch seine mildernden Umstände nicht auf den Tisch legen.
    »Ich weiß, was passiert ist«, sagte Sejer. »Es fehlen nur noch ein paar Einzelheiten.«
    »Gut gemacht«, sagte Tomme mühsam. »Wo Sie es ja nicht mal gesehen haben.«
    »Ich begreife vielleicht mehr, als du ahnst«, sagte Sejer. »Und wenn ich mich irre, kannst du mich ja korrigieren.«
    Tomme drehte den Kopf zur Seite und zeigte eine bleiche Wange.
    »Du kannst davor nicht weglaufen«, sagte Sejer. »Mach diesen Fehler lieber nicht.«
    Tomme spürte im tiefsten Herzen, daß er kein Verbrecher war. Ob es vielleicht allen so ging? Allen, die hier ihre Strafe absaßen, einen Stock
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