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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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    D IE T AGE VERGINGEN SO langsam.
    Ida Joner hob die Hand und zählte ihre Finger durch. Am 10. September hatte sie Geburtstag. Aber jetzt war erst der 1. Sie wünschte sich so viel. Vor allem ihr eigenes Schmusetier. Etwas Warmes, Lebendiges, das nur ihr gehörte. Ida hatte ein reizendes Gesicht und große braune Augen. Sie war schmal und zart und hatte dichte Locken. Sie war lebhaft und immer munter. Und das war zuviel des Guten. Das dachte ihre Mutter oft, vor allem, wenn Ida das Haus verließ und ihr Rücken hinter der Kurve verschwand. Zuviel und zu gut, um von Dauer sein zu können.
    Ida schwang sich auf ihr Rad. Sie wollte auf ihrem nagelneuen Nakamura in den Ort fahren. Sie hinterließ das Wohnzimmer in wildem Chaos, sie hatte auf dem Sofa gelegen und mit Karten und Puppen gespielt. Ihre Abwesenheit würde zuerst eine große Leere hinterlassen. Danach würde ein fremder Ton durch die Wände sickern und das Haus mit Unruhe füllen. Ihrer Mutter gefiel das nicht. Aber sie konnte die Kleine doch nicht wie einen Singvogel in einen Käfig stecken. Sie winkte Ida zu und lächelte tapfer. Vergrub sich in praktischen Aufgaben. Der Staubsauger würde den neuen Klang im Raum übertönen. Wenn sie sich schweißnaß arbeitete oder vom Teppichklopfen müde würde, dann würde das den kleinen Dorn in ihrer Brust abstumpfen, der sich immer wieder bemerkbar machte, wenn Ida nicht bei ihr war. Jetzt bog das Rad nach links ab. Ida wollte zum Kiosk. Alles war in Ordnung, sie hatte ihren Fahrradhelm aufgesetzt. Eine harte Schale, die sich schützend um ihren Kopf schloß. Ihre eigentliche Lebensversicherung. Bei sich hatte sie eine Brieftasche mit Zebramuster, die dreißig Kronen enthielt. Das reichte für die neueste Nummer der Pferdezeitschrift Wendy . Für das restliche Geld kaufte sie sich immer eine Packung Bugg. Für die Fahrt zu Lailas Kiosk würde sie vielleicht eine Viertelstunde brauchen. Die Mutter rechnete in Gedanken nach. Ida würde gegen zwanzig vor sieben wieder zu Hause sein. Dabei war die Möglichkeit, daß ihr jemand begegnete und sie zehn Minuten stehenblieb, um zu plaudern, schon eingerechnet. Während die Mutter wartete, machte sie sich ans Aufräumen. Las Karten und Püppchen vom Sofa auf. Sie wußte, daß ihre Tochter sie überall hören konnte. Sie hatte ihre energische Stimme in den Kopf der Kleinen eingepflanzt und wußte, daß die dort als ewige Ermahnung widerhallte. Sie hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, wie nach einem Übergriff, aber sie hatte keine andere Wahl. Diese Stimme würde Ida schließlich retten, wenn ihr eines Tages eine Gefahr gegenübertrat.
    Ida war ein wohlerzogenes Mädchen, das niemals der Mutter trotzen oder ein Versprechen vergessen würde. Aber die Uhr an Helga Joners Wohnzimmerwand ging auf die Sieben zu, und Ida war noch immer nicht wieder da. Und nun meldete sich der erste Stich der Angst. Gefolgt von dem Bohren im Magen, das sie immer wieder zum Fenster trieb, vor dem Ida auf ihrem gelben Fahrrad natürlich jeden Moment auftauchen würde. Der rote Helm würde in der Sonne blinken. Sie würde das leise Knirschen der Reifen im Kies hören. Vielleicht würde Ida einmal kurz klingeln, da bin ich wieder! Und dann würde der Fahrradlenker gegen die Wand knallen. Aber Ida kam nicht.
    Helga Joner spürte, wie alles sie verließ, was ihr vertraut war und Geborgenheit schenkte. Ihr Körper, der sonst schwer war, wog nichts mehr; sie schwebte wie ein Gespenst durch die Zimmer. Dann landete sie mit einem Pochen in der Brust auf dem Boden. Fuhr zusammen und schaute sich um. Warum kam ihr das alles so bekannt vor? Weil sie diese Situation schon seit Jahren immer wieder in Gedanken durchgegangen war. Weil sie immer gewußt hatte, daß dieses wunderbare Kind nicht bei ihr bleiben könnte. Eben weil sie mit allem gerechnet hatte, machte es ihr eine wahnsinnige Angst. Die Gewißheit, daß sie Dinge voraussehen konnte, die Erkenntnis, daß sie dies alles von Anfang an gewußt hatte, sorgte dafür, daß ihr schwindlig wurde. Deshalb habe ich immer Angst, dachte Helga. Jeden Tag, seit zehn Jahren, habe ich Angst gehabt, und das mit gutem Grund. Jetzt ist er da. Der Albtraum. Groß und schwarz kratzt er an der Innenseite meines Herzens.
    Um Viertel nach sieben riß sie sich aus ihrer Apathie und suchte sich im Branchenverzeichnis die Nummer von Lailas Kiosk. Sie versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. Sie mußte es viele Male klingeln lassen, ehe der Hörer abgenommen wurde.
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