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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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Heinrich war vermutlich nicht einmal sonderlich intelligent, aber wie andere Tiere spürte er sofort den Widerwillen des grauhaarigen, bebrillten Mannes. Und wann immer Holthemann auf dem Absatz kehrtmachte, pfiff Heinrich sofort das Stück »You are my sunshine, my only sunshine«.
    Zwei Männer und eine Frau bereiteten mit Feuereifer die Verteidigung im Fall Ida Joner vor. Die mildernden Umstände wollten kein Ende nehmen. Es ging um einen unreifen Jungen, der in gutem Glauben gehandelt hatte. Ida hatte sich ja nach dem Zusammenstoß wieder aufrappeln und auf eigenen Füßen stehen können. Es ging um eine pflichtbewußte Mutter, die ihre eigene Ehre retten und ihren zurückgebliebenen Sohn beschützen wollte, und dieser Sohn wiederum konnte für gar nichts zur Verantwortung gezogen werden. Und was Willy Oterhals und sein Verschwinden betraf, so war das ein unbegreifliches Rätsel, das wohl ungelöst bleiben würde, solange sie ihn nicht fanden, sei es nun tot oder lebendig.
    Tomme saß in Untersuchungshaft. Er krümmte sich auf der Pritsche zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Er kam sich fehl am Platze vor. Was mache ich hier? fragte er sich. In einer Anstalt, zusammen mit Dieben und Mördern? In seinem Kopf war noch immer das Ticken zu hören. Eine Sekunde nach der anderen mußte bewältigt werden. Er versuchte oft, sich weit wegzuträumen, versuchte, verstohlen an dem Berg aus Zeit zu nagen, der sich vor ihm auftürmte. Er wird weniger, sagte er sich. Er wird so langsam weniger, daß ich es nicht sehen kann, aber er wird weniger.
     
    Es wurde ein unbarmherziger Winter. Mit langen Perioden extremer Kälte. Helga Joner war noch immer in ihrer eigenen Welt. Ihre Schwester Ruth sah sie nicht mehr. Tomme hatte Ida totgefahren und wartete jetzt auf sein Urteil. Sie dachte immer nur an Tomme. Sie stellte sich vor, daß ihre Schwester Ruth es die ganze Zeit gewußt habe. Sie dachte so viele entsetzliche Dinge.
    Eines Tages tauchte Sejer auf. Helga freute sich, ihn zu sehen. Er war eine Verbindung zu Ida, die sie noch nicht aufgeben konnte. Sejer entdeckte ein molliges Hundebaby, das zwischen ihren Füßen herumsprang. Sie bat ihn herein und kochte Kaffee für ihn, und dann schwiegen sie eine Weile. Seine Anwesenheit war genug für Helga, und insgeheim hoffte sie, daß sie einander immer kennen würden. Sie hätte das gern laut gesagt, traute sich aber nicht. Sie schaute verstohlen zu ihm hinüber, und ihr ging auf, daß er an sehr ernste Dinge dachte.
    »Woran denken Sie?« fragte sie vorsichtig.
    Im selben Moment staunte sie. Sie hatte das Gefühl, endlich aus ihrem Versteck, in dem sie so lange verharrt hatte, hervorzuschauen. Zum ersten Mal seit Idas Verschwinden interessierte sie sich für einen anderen Menschen.
    Sejer erwiderte ihren Blick.
    »Ich denke an Marion Rix«, sagte er. »Ihre Nichte. Sie hat es nicht leicht.«
    Helga senkte den Kopf. Im tiefsten Herzen schämte sie sich. Sie hatte soviel an Tomme gedacht, und auch an Ruth und Sverre. Hatte sie beschuldigt. War ihnen aus dem Weg gegangen. Marion hatte sie vergessen.
    »In der Schule wird sie schikaniert«, sagte Sejer.
    »Hat Marion das gesagt?« fragte Helga besorgt.
    »Ich habe mit einem Lehrer gesprochen. Der hat es mir gesagt.«
    Helga schlug die Hände vors Gesicht. Das Hundebaby zog an ihrem Pantoffel.
    »Marions Schuld ist es ja wirklich nicht«, sagte sie müde.
    »Nein. Aber vielleicht muß sie das hören. Und die Worte müssen von Ihnen kommen. Schaffen Sie das?«
    »Ja«, sagte Helga und schaute hoch. »Das schaffe ich.«
    Das Hundebaby ließ ihren Pantoffel los und kroch zu Sejer unter den Tisch. Dort zog es eifrig an Sejers Hosenbein.
    »Ich habe auch einen Hund«, sagte Sejer leise. »Aber der ist jetzt alt. Er kann fast nicht mehr laufen. Ich muß mit ihm zum Tierarzt«, fügte er hinzu. »Ich habe morgen nachmittag einen Termin. Und jetzt muß ich nach Hause fahren und es ihm sagen.«
    Er schob den kleinen Hund ein Stück von sich weg. Helga war total verwirrt.
    »Sind Sie dann ganz allein?« fragte sie.
    »Nein«, sagte er. »So schlimm ist es nun doch nicht.«
    »Sie können sich doch wieder einen anschaffen«, sagte sie eindringlich.
    »Ich weiß nicht recht«, sagte er zögernd. »Er ist doch unersetzlich.«
     
    Lange nachdem Sejer gegangen war, lief Helga noch immer in Gedanken versunken hin und her. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, dachte sie noch immer an ihn. Als der Abend kam und die Dämmerung sich blau
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