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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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die Beine übereinanderzuschlagen.
    »Das habt ihr also geglaubt? Emil Johannes hätte sie entführt und sie umgebracht?«
    »Eine andere Erklärung konnten wir nicht finden«, sagte Tomme.
    »Ida ist an den Verletzungen gestorben, die sie beim Zusammenstoß mit deinem Wagen erlitten hatte«, erklärte Sejer. »Du hast ihre Brust getroffen. Daß ihr Fahrrad unversehrt war, hat mich verwirrt, aber jetzt begreife ich alles. Emil wollte ihr helfen. Er hat sie von der Straße aufgelesen und in sein eigenes Bett gelegt. Und dort ist sie gestorben.«
    Tomme konnte nur schwach den Kopf schütteln, als weigere er sich, das zu glauben.
    »Ihr habt beide eine Menge Fehler gemacht«, sagte Sejer. »Aber anders als bei Emil Johannes ist dein Kopf völlig in Ordnung. Und du bist schuld an Idas Tod.«
    Ein entsetzliches Schweigen folgte. Die Stille, die Tomme sich gewünscht hatte, füllte seinen ganzen Kopf. Sie war so total, daß sie wie Watte aus seinem Mund quoll. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und wurde zundertrocken. Verzweifelt kratzte er mit den Fingern über den Stuhlsitz. Der war mit steifem Stoff bezogen, und es schien, als versuche Tomme, sich bis zur Polsterung durchzukratzen.
    »Tomme«, bat Sejer. »Steck die Hände in die Taschen.«
    Tomme gehorchte. Wieder kehrte Stille ein.
    »Was Willy Oterhals betrifft«, sagte Sejer, »der wird natürlich wieder auftauchen. Früher oder später. In welcher Form auch immer.«
    Tomme versuchte, die Watte hinunterzuschlucken, statt sie auszuspucken. Ihm wurde wieder schlecht.
    »Es kann dauern«, sagte Sejer jetzt. »Aber ich weiß, daß er wieder auftaucht. Als du da oben an Deck standst und sahst, wie er betrunken umhertorkelte – hast du da an die Tatsache gedacht, daß er dein entsetzliches Geheimnis kannte?«
    »Ich habe gar nichts gedacht«, sagte Tomme. »Ich habe gefroren.«
    »Wir machen noch einen Versuch«, sagte Sejer. »Ist er über Bord gefallen, und für dich war es eine willkommene Möglichkeit, ihn endlich loszuwerden?«
    »Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Tomme. »Ich bin in die Kabine gegangen und in die Koje gefallen.«
    »Und die Tasche, Tomme. Was hast du damit gemacht?«
    »Die hat sicher das Kabinenpersonal gestohlen«, murmelte er. »Und die war doch mit Pillen vollgestopft. Die können für viel Geld auf der Straße verkauft werden.«
    »Nicht die Pillen, die Willy im Spunk gekauft hat«, wandte Sejer ein. »Denn die hat deine Mutter in die Toilette geworfen.«
    Tommy rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Ihm kam das alles unwirklich vor, wie ein Computerspiel. Er war die weiße Maus in der Mitte des Labyrinths. Und Sejer war eine riesige Katze, die langsam näherkam.
    »Was ist mit Willy passiert?« drängte Sejer.
    Willy, Willy, Willy, hörte Tomme, wie ein schwaches, verhallendes Echo.
    Endlich versank er in Schweigen. Er hatte das Gefühl, rückwärts in einen Schacht zu fallen. Hier ist es besser, dachte er erleichtert. Hier gibt es nur meinen eigenen Atem und die leisen Verkehrsgeräusche von draußen.
    Jetzt sage ich nichts mehr.
    *

D IE A NZAHL DER Menschen, die jeden Tag auf der Wache aus und ein gingen, war beträchtlich. Und alle entdeckten sofort den prachtvollen Vogel in seinem eleganten Käfig. Der Vogel flötete melodisch für alle, die an ihm vorüberkamen. Heinrich war mit einem Häftlingstransporter geholt worden, dem einzigen Fahrzeug, das für den hohen Käfig Platz genug geboten hatte. Heinrich war sehr gelehrig. Skarre hatte ihm die Erkennungsmelodie der Serie Akte X und außerdem die berühmten fünf Töne aus dem Film Die unheimliche Begegnung der dritten Art beigebracht. Astrid Brenningen kümmerte sich um den Käfig. Sie füllte die Näpfe mit Körnern und Wasser und wechselte das Zeitungspapier auf dem Boden. Die Zeitungen brachten noch lange Zeit Bilder von Ida. Heinrich konnte sie von seiner Stange her betrachten. Skarre hatte ein Pappschild aufgehängt, das Neugierige warnen sollte. »Halten Sie Ihre Finger zurück!« Aber viele lernten es eben nie. Immer wieder mußte Pflaster aus dem Personalraum geholt werden. Abteilungsleiter Holthemann, der die meisten Eigenschaften besaß, die ein Chef haben sollte, wie Klugheit, Gründlichkeit, Autorität und Genauigkeit, dem es aber an Humor fehlte, deutete immer wieder an, der Vogel solle in ein Tiergeschäft gebracht werden und dort bleiben, bis der Fall abgeschlossen sei. Er starrte Heinrich mürrisch an, wenn er am Käfig vorbeikam. Heinrich mochte klein sein,
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