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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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Daß sie am Telefon stand und ihre eigene Angst bloßstellte, stärkte sie noch in ihrer Überzeugung, daß Ida gleich um die Ecke biegen würde. Als endgültige Bestätigung dafür, daß Helga Joner sich wie eine Glucke verhielt. Aber Ida war nicht zu sehen, und nun meldete sich eine Frauenstimme. Helga lachte zuerst, wie um sich zu entschuldigen, denn sie hörte, daß sie es mit einer Erwachsenen zu tun hatte, die vielleicht selbst auch Mutter war. Diese Frau würde sie verstehen. »Meine Tochter ist mit dem Rad losgefahren, um die neue Wendy zu kaufen. An Ihrem Kiosk. Sie sollte danach sofort nach Hause kommen, sie müßte jetzt hier sein, aber das ist sie nicht. Und deshalb wollte ich nur fragen, ob sie bei Ihnen war und ihre Einkäufe erledigt hat.« Sagte Helga Joner.
    Sie schaute aus dem Fenster, um sich vor der Antwort zu schützen.
    »Nein«, sagte die Stimme. »Hier war kein Mädchen, soviel ich weiß jedenfalls nicht.«
    Helga schwieg. Diese Antwort konnte doch nicht stimmen. Ida musste dort gewesen sein, warum sagte diese Frau so etwas? Sie verlangte eine andere Antwort!
    »Sie ist klein und dunkel«, sagte sie deshalb. »Zehn Jahre alt. Sie trägt einen blauen Trainingsanzug und einen roten Helm. Das Rad ist gelb.«
    Das mit dem Fahrrad war überflüssig. Das hatte sie ja wohl nicht mit in den Kiosk genommen.
    Laila Heggen, die Kioskbesitzerin, fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut und zögerte mit der Antwort. Sie hörte die wachsende Panik und wollte sie nicht noch schlimmer machen. Deshalb ging sie in Gedanken die vergangenen Stunden durch. Aber sie fand dort kein kleines Mädchen, so gern sie das auch wollte.
    »Hierher kommen so viele Kinder«, sagte sie. »Der Tag ist lang. Aber um diese Zeit ist es still. Zwischen fünf und sieben haben wir immer eine Art Flaute. Danach geht es wieder lebhafter zu, bis zehn. Und dann mache ich Feierabend.«
    Sie wußte nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Außerdem lagen zwei Hamburger auf der Platte, es roch schon leicht angebrannt, und die Kundschaft wartete. Helga suchte nach Worten. Sie konnte nicht auflegen, wagte nicht, die Verbindung, die diese Frau zu Ida darstellte, zu unterbrechen. Dorthin hatte Ida doch gewollt. Wieder starrte Helga auf die Straße hinaus. Es kam nur selten ein Auto vorbei. Der Feierabendverkehr war vorüber.
    »Aber wenn sie auftaucht«, bat sie, »dann sagen Sie ihr, dass ich warte.«
    Wieder war alles still. Die Frau im Kiosk hätte ihr gern geholfen, wußte aber nicht, wie. Wie entsetzlich, dachte sie, nein sagen zu müssen. Wo doch ein Ja gebraucht wurde.
    Helga Joner legte auf. Eine neue Zeitrechnung begann. Ein schleichender, unbehaglicher Wechsel, der eine Veränderung im Licht, in der Temperatur, in der Landschaft vor dem Fenster mit sich brachte. Bäume und Büsche waren aufmarschiert wie angriffslustige Soldaten. Plötzlich sah sie, dass der Himmel, von dem seit Wochen kein Regen mehr gefallen war, sich dicht bewölkt hatte. Wann war das passiert? Sie spürte ihr Herz laut und wütend schlagen, sie hörte die Uhr an der Wand, die mechanisch vor sich hintickte. Die Sekunden, die sie sich immer als metallische kleine Punkte vorgestellt hatte, waren schwere schwarze Tropfen, und sie registrierte einen nach dem anderen. Sie betrachtete ihre Hände, die trocken und runzlig waren. Es waren nicht mehr die Hände einer jungen Frau. Sie hatte Ida spät im Leben bekommen und war seit kurzem neunundvierzig. Dann schlug ihre Angst in Wut um, und sie griff wieder zum Telefon. Es gab soviel zu tun, Ida hatte in der Gegend Freundinnen und Verwandte. Helga hatte eine Schwester, Ruth, und die Schwester hatte eine zwölfjährige Tochter, Idas Kusine Marion, dazu den achtzehnjährigen Vetter Tomme. Idas Vater, der allein lebte, hatte im Ort zwei Brüder, Idas Onkel, beide verheiratet, jeder Vater von zwei Kindern. Das waren Idas Verwandte. Bei denen könnte sie sein. Aber die hätten angerufen. Helga zögerte. Zuerst die Freundinnen, dachte sie. Therese. Oder vielleicht Kjersti. Außerdem war Ida oft mit Richard zusammen, einem zwölfjährigen Jungen aus der Nachbarschaft, der ein Pferd hatte. Die Klassenliste ihrer Tochter war mit Klebeband auf dem Küchentisch befestigt, dort waren alle Namen und Telefonnummern verzeichnet. Sie fing oben bei Kjersti an. Nein, leider, dort war keine Ida aufgetaucht. Die Besorgtheit der anderen Frau, ihre Verlegenheit und Teilnahme und am Ende der absolut notwendige Abschluß – sie taucht sicher bald
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